„Das Licht am Ende des Tunnels? Investitionen!“
Hohe Kosten, stotternde Lieferketten und die Energiekrise verunsichern die Wirtschaft. Worauf können sich kleine und mittlere Unternehmen in den nächsten Monaten einstellen, und wo bieten sich ihnen Chancen? ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski verrät’s im Interview.
Im zweiten Quartal dieses Jahres ist die Wirtschaftsleistung stagniert. Mit welcher Entwicklung können wir in den nächsten Monaten rechnen?
Carsten Brzeski: Kurzfristig wird eine milde Rezession kaum zu verhindern sein. Die Verbraucherstimmung etwa ist sehr schlecht. Auch wenn viele jetzt im Sommer bereit sind, noch einmal das Ersparte anzuzapfen, um davon den Urlaub zu bezahlen. Aber viele Menschen müssen jetzt überall Geld zurückhalten und stellen auch große Anschaffungen erst einmal zurück. Gleichzeitig merken Unternehmen immer mehr, dass sie die gestiegenen Kosten nicht mehr weitergeben können an die Verbraucherinnen und Verbraucher. Hinzu kommt das mögliche Energieversorgungsproblem im Winter, das in der härtesten Form sogar zu Produktionsstopps führen könnte.
Während der Corona-Krise gab es immer ein Licht am Ende des Tunnels: Wenn sich die Pandemie beruhigt, erholt sich auch die Wirtschaft wieder schnell. Gibt es auch jetzt so einen Hoffnungsschimmer?
Licht am Ende des Tunnels gibt es natürlich immer, auch jetzt. Aber der Tunnel ist ein längerer. Zu Beginn des Kriegs in der Ukraine gingen viele davon aus, dass die Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung ähnlich sein würden wie bei der Pandemie: Sobald der Krieg vorbei ist, schießt alles wieder nach oben.
Das ist jetzt aber nicht so?
Der Krieg wird noch lange dauern, vermutlich mindestens bis weit ins nächste Jahr hinein. Und die wirtschaftlichen und geopolitischen Folgen für Deutschland sind größer als bei der Pandemie. Weil jetzt langfristige strukturelle Veränderungen anstehen, wird sich die Wirtschaftsdynamik nicht so schnell wieder richtig positiv entwickeln. Diese Veränderungen sind aber gleichzeitig der Hoffnungsschimmer, nämlich durch die Investitionen, die damit verbunden sind. Unternehmerinnen und Unternehmer wissen: Wenn ich investiere, dann dauert es eine Weile, bis das Licht am Ende des Tunnels brennt – aber wenn ich das gut mache, dann brennt es richtig.
In welchen Bereichen siehst du besonders großes Investitionspotenzial?
Alle Industriezweige, die direkt oder indirekt mit der grünen Transformation verbunden sind, haben ein enormes Potenzial. Nachhaltigkeit, erneuerbare Energien – das sind Bereiche mit riesigen Chancen. Das gilt auch für den Bereich Infrastruktur, den wir größer, schneller, moderner machen wollen. Und auch für den Umbau von Produktionsprozessen als Folge des Rückgangs der Globalisierung, also wenn wir wieder mehr selbst produzieren. Insgesamt brauchen wir unheimlich viele Investitionen, und Investitionen bieten natürlich immer Chancen.
Investitionen kosten aber auch viel Geld. Nun sind zuletzt die Zinsen gestiegen. Wie entwickelt sich das weiter?
Wenn wir erst einmal auf die Europäische Zentralbank (EZB) schauen: Im Juli hat sie den Leitzins zum ersten Mal seit 2011 erhöht, und ich gehe davon aus, dass sie ihn im September/Oktober noch einmal um 50 Basispunkte erhöhen wird. Und im Frühjahr oder Sommer 2023 vielleicht noch einmal auf dann höchstens 1,5 Prozent, wenn es wirtschaftlich besser läuft als erwartet. Die für Unternehmerinnen und Unternehmer wichtigere Frage ist aber natürlich: Wie entwickeln sich die Finanzierungsbedingungen? Und selbst wenn die EZB den Leitzins weiter erhöht, glaube ich, dass sich die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen trotzdem eher stabilisieren dürften. Auch wenn das natürlich von vielen Faktoren abhängt.
Bedeutet der höhere Leitzins, dass sich die Inflation bald wieder beruhigt?
Egal, was die EZB getan hat und was sie in den kommenden Wochen tun wird: Kurzfristig hat sie keinen Einfluss auf die Inflationsrate. Die Inflation der Erzeugerpreise ist weiter hoch, die Kosten der Unternehmen sind weiter gestiegen. Energie- und Rohstoffpreise sind ebenfalls hoch. Unternehmen im Dienstleistungsbereich und im Gastgewerbe werden vermutlich noch einmal einen Versuch starten, ihre höheren Kosten an ihre Kundinnen und Kunden weiterzugeben. Das heißt, kurzfristig steigt die Inflationsrate eher, als dass sie sinkt.
Und mittel- bis langfristig?
Für das Gesamtjahr sehe ich die Inflationsrate in Deutschland etwa bei acht Prozent, für das nächste Jahr dann bei etwa vier Prozent. Im Laufe des nächsten Jahres sollte sie runtergehen und dann Ende 2023 bei etwa zwei Prozent liegen. Aber auch mittel- bis langfristig werden wir höhere Inflationsraten sehen, als wir das aus den letzten Jahren gewohnt waren. Nicht wieder acht Prozent wie in diesem Jahr, aber etwa zwei bis drei Prozent.
Du hast den Umbau von Produktionsprozessen erwähnt. Probleme in den Lieferketten waren während der Pandemie ja besonders akut. Hat sich die Situation inzwischen etwas entspannt?
Nein, leider nicht. In China hängen zum Beispiel weiterhin viele Schiffe fest, auch weil es dort immer wieder neue Lockdowns gibt. Und durch den Krieg in der Ukraine sind einige Produkte knapp. Die Lieferprobleme sind insgesamt zwar nicht schlimmer geworden, aber es hat sich eben nicht deutlich verbessert. Vielleicht wird sich die Lage im Laufe des Jahres ein wenig entspannen. Aber größere Entspannung sehen wir frühestens im nächsten Jahr.
Um nochmal zur wirtschaftlichen Entwicklung zurückzukommen: Eine Rezession ist immer auch verbunden mit der Sorge, dass die Arbeitslosigkeit stark steigt. Steht uns das bevor?
Das sehe ich nicht. Ich kann mir so ein Szenario natürlich ausmalen im Falle von Gaslieferstopps und Produktionsstopps, aber davon gehe ich erstmal nicht aus. Die Entwicklung des Arbeitsmarkts ist schwer vorherzusagen, weil der Staat viel Einfluss hat. Während der Pandemie hat er etwa mit Kurzarbeit eingegriffen. Ich kann mir vorstellen, dass der Staat auch jetzt bei einer großen Krise alles dafür tun würde, die Folgen für den Arbeitsmarkt aufzufangen.
Neulich kam der Vorschlag auf, aufgrund des Fachkräftemangels die 42-Stunden-Woche einzuführen. Eine gute Idee?
Also rein volkswirtschaftlich betrachtet, ergibt das natürlich Sinn. Es ist ja eine einfache Gleichung: Wir haben zu wenige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also lassen wir die länger arbeiten. Nur ist in der Gleichung halt die Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht berücksichtigt. Und da ging der Trend in den letzten Jahren eher zu kürzerer Arbeitswoche.