Wohin steuert die Wirtschaft, Carsten Brzeski?
Der ING-Chefökonom im Interview: zur jüngsten Bankenkrise, der Inflationsentwicklung, gut laufenden Lieferketten – und warum es ohne neue Investitionen nicht vorangeht.
Von der Silicon Valley Bank bis zur Credit Suisse: In den vergangenen Wochen hat sich eine internationale Bankenkrise aufgetan. Müssen Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland nun wirtschaftliche Verwerfungen wie bei der Finanzkrise 2007–2009 befürchten?
Carsten Brzeski: Man sollte immer vorsichtig sein. Aber wenn man sich die Sachlage nüchtern anschaut, haben wir kein „Lehman 2.0“. Nicht nur gab es damals viel weniger Regulierung, sondern Aufsichtsbehörden, Politiker, Notenbanken hatten auch weniger Erfahrung, wie mit so einer Krise umzugehen ist. Das ist heute anders: Die Erfahrungen der Finanzkrise haben wirklich was gebracht. Es wurde in den vergangenen Wochen schnell gehandelt, um die Krisenherde zu isolieren. Und es sieht so aus, als ob das gelingt und sich die Situation nicht weiter verschärft.
Wie ist nun mit der Entwicklung der Inflation im weiteren Jahresverlauf zu rechnen?
Solange sich die Lage wieder normalisiert, sollte sich die Inflation unabhängig von der aktuellen Situation rund um einige Banken entwickeln. Und da haben wir zwei unterschiedliche Entwicklungen: Einerseits sind die Energiepreise deutlich gefallen im Vergleich zum Sommer 2022. Andererseits ist noch viel Inflation im System, das heißt, dass versucht wird, die gestiegenen Kosten aus dem vergangenen Jahr an die Verbraucherinnen und Verbraucher weiterzugeben. Hinzu kommen die Lohnerhöhungen. Die sind ja gut, aber dadurch ist der Inflationsdruck etwas länger im System, weil sich die Menschen länger höhere Preise leisten können. Aber der langfristige Inflationstrend geht ein Stück nach unten.
Kaufkraft und Konsumstimmung entwickeln sich durch die Lohnerhöhungen also ganz gut?
Das bewegt sich horizontal. Wir gehen von einer Inflationsrate von fünf bis sechs Prozent für dieses Jahr aus, und die Lohnerhöhungen könnten auch bei etwa sechs Prozent liegen. Es ist also kein starker Anstieg des Konsums zu erwarten, aber auch kein Einbruch.
Seit Jahresbeginn sind einige positive Wirtschaftszahlen veröffentlicht worden: gestiegene Produktion, mehr Exporte, besseres Geschäftsklima. Sind das gute Zeichen für den weiteren Jahresverlauf?
Wir sind auf jeden Fall positiv ins neue Jahr gestartet. Aber die Industriezahlen zum Beispiel waren im Dezember wirklich sehr schlecht, der Anstieg nun war also nicht zwingend ein Zeichen großer Stärke. Die Auftragslage der Industrie hatte sich im Laufe des vergangenen Jahres stetig verschlechtert. Zudem sind die Energiepreise zwar niedriger als im letzten Sommer, aber noch immer höher als vor Ausbruch des Kriegs in der Ukraine. Und die Zinskosten für Unternehmen sind gestiegen. Es gibt also einige Faktoren, die gegen zu viel Optimismus sprechen.
Und was spricht dafür?
Wir sind viel besser durch den Winter gekommen als befürchtet. Das Ende der Lockdowns in China lief anscheinend ebenfalls reibungsloser als gedacht. Die Wiedereröffnung in China wird auch uns in Deutschland sehr helfen. Und weil die Energiepreise nicht mehr so hoch sind wie im letzten Sommer, wird sich in der deutschen Industrie der eine oder andere jetzt sicher überlegen, ob es sich nicht lohnt, die Produktion wieder etwas mehr anzufahren.
Was ist mit den Lieferketten, hat sich die Situation verbessert?
Ja, das ist auf jeden Fall einer der Faktoren, warum die Wirtschaft nicht so abgestürzt ist wie befürchtet. Wir hatten hier schon im Herbst und Winter deutliche Verbesserungen gesehen. Ab dem Sommer, wenn in China auch die Industrie noch stärker anspringt, könnten sich die Lieferkettenprobleme weiter auflösen. Das ist also eine deutlich positive Entwicklung!
Obwohl es während der Pandemie einen regelrechten Investitionsstau in Deutschland gab, lagen die Ausrüstungsinvestitionen zum Beispiel in Anlagen oder Maschinen Ende 2022 noch immer unter dem Vor-Pandemie-Niveau. Wie sind die Investitionsperspektiven der Unternehmen in diesem Jahr?
Investitionsstau haben wir nicht erst seit Corona, sondern seit fünf bis zehn Jahren. Die Ausrüstungsinvestitionen haben darunter gelitten, dass verschiedene Bundesregierungen etwas zu sehr auf die schwarze Null gesetzt haben. So positiv die Intentionen auch waren für nachhaltige Haushaltsfinanzen, die Schattenseite war ein deutlicher Rückgang der Investitionstätigkeiten im Vergleich zu den meisten anderen Ländern.
Ändert sich das jetzt?
Es gibt viele Initiativen und Anzeichen in Deutschland, dass man erkennt, dass mehr investiert werden muss. Und dass man das auch versucht. Die große Frage ist: Wie klappt das mit den gestiegenen Zinsen? Vor zwei Jahren hatten wir noch ein Nullzinsumfeld. Jetzt ist es komplizierter, weil Kredite teurer sind.
Warum ist Investieren so wichtig?
Es muss ja jetzt jedem deutlich geworden sein, dass die Energiewende weitergehen und beschleunigt werden muss. Und dass auch der Staat nicht in der Lage sein wird, über Jahre hinweg Preisdeckel einzuführen. Wenn ich als Unternehmen konkurrenzfähig sein möchte, brauche ich also Investitionen. Da muss ich meine Produktionsprozesse umbauen, Solarzellen auf dem Dach installieren, Fabrikhallen besser isolieren. Das sind alles Investitionen, die in den nächsten Jahren getätigt werden müssen. Auch die Digitalisierung muss weiter vorangetrieben werden. Aber durch die höheren Zinskosten werden Unternehmen dann vielleicht an anderer Stelle sparen.
Also wird Priorisieren wichtiger.
Was auch wichtig ist: Vielleicht muss ich als Unternehmer, der bisher gute Gewinne fährt, dann auch akzeptieren, dass ich meine Gewinne zurückfahren muss. Also dass ich ein Schrumpfen der Gewinne habe. Denn ich muss eben diese Investitionen tätigen. Ich muss aufgrund von Demografie und Fachkräftemangel auch in Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter investieren, in höhere Löhne, Training, Weiterbildung. Die werden immer wertvoller werden. Wenn ich es dann nicht schaffe, an anderer Stelle meine Kosten zu reduzieren, muss ich vielleicht akzeptieren, dass ich ein paar Jahre von der Gewinnmaximierung wegkomme. Also eine strategische Entscheidung treffen, langfristig denken: Wo will ich in fünf Jahren stehen als Unternehmen?