Chart of the Week | 21.06.2019
Unendliche Geschichte
31. Oktober 2019. Nach aktuellem Stand ist dies das Datum, an dem der bereits 2016 beschlossene und ursprünglich schon für den 29. März dieses Jahres vorgesehene Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union wirksam werden soll. Auf dem Weg dorthin gibt es jedoch noch einige Unwägbarkeiten – nicht zuletzt die Suche nach einem neuen Premierminister, nachdem Theresa May ihren Rücktritt erklärt hat. Favorit auf ihre Nachfolge als Parteichef der britischen Konservativen und damit auch als Premierminister ist derzeit Boris Johnson, der die ersten beiden Wahlgänge klar für sich entscheiden konnte.
Mittlerweile traut sich kaum noch ein ökonomischer oder politischer Kommentator, die weitere Entwicklung auf der Insel vorherzusagen. Es gibt aber eine Branche, in der solche Vorhersagen das Kerngeschäft sind – denn in dieser Branche lebt man unmittelbar davon, die Zukunft nach Möglichkeit besser vorherzusagen als Andere. Gemeint sind die Wettbüros, in denen nicht nur auf Pferderennen und Fußballergebnisse, sondern auch auf politische Ereignisse gewettet werden kann. Unser Chart der Woche zeigt die aus den Wettquoten der Buchmacher abgeleitete, sogenannte „implizite Wahrscheinlichkeit“ für die Amtsübernahme durch Johnson und einige andere Kandidaten im Verlauf der letzten Wochen. Deutlich zu sehen ist der anfangs nur geringe Vorsprung Johnsons, der sich vor allem in jüngerer Zeit beständig vergrößert.
Aber was würde ein Premierminister Boris Johnson für die weitere Entwicklung in Sachen Brexit bedeuten? Er hat sich in diesem Zusammenhang bislang als Hardliner profiliert und dürfte wohl versuchen, der Europäischen Union unter Androhung eines mit ihm wahrscheinlicher gewordenen No-Deal-Brexit weitere Zugeständnisse abzuringen. Die EU hat aber klar gemacht, dass sie den eigentlichen Brexit-Vertrag als ausverhandelt ansieht und die Verhandlungen nicht wieder öffnen will. Änderungen an der begleitenden politischen Erklärung wären denkbar; diese wären jedoch rechtlich nicht bindend und würden es ihm vermutlich auch nicht wesentlich leichter machen als Theresa May, den Deal durchs Parlament zu bringen.
Implizite Wahrscheinlichkeit für verschiedene Kandidaten, Parteichef der britischen Konservativen zu werden (in Prozent)
Allerdings hat sich das Parlament in der Vergangenheit auch bereits klar gegen einen No-Deal-Brexit ausgesprochen. Dies ist zwar rechtlich folgenlos: Es müsste ein Vertrag angenommen, nicht einfach nur der Austritt ohne Vertrag abgelehnt werden. Jedoch ist anzunehmen, dass die Mehrheit der Abgeordneten es nicht wirklich darauf ankommen ließe, ungeordnet aus der EU auszuscheiden. Als „Reißleine“ könnte in diesem Fall ein Misstrauensvotum dienen: Die Opposition bräuchte nur wenige Stimmen aus dem Regierungslager, um einer solchen Initiative zum Erfolg zu verhelfen. Neuwahlen wären die Folge. Die dafür nötige Zeit würde die EU den Briten vermutlich einräumen – in der Hoffnung, mit der nachfolgenden Regierung konstruktiver zusammenarbeiten zu können.
Drohende Neuwahlen könnten allerdings auch einige Brexit-Hardliner dazu veranlassen, quasi in letzter Minute doch noch für den ausgehandelten Vertrag – womöglich mit einigen kosmetischen Änderungen – zu stimmen und ihm zu einer Mehrheit zu verhelfen. Zur Umsetzung der ausgehandelten Regelungen in britische Gesetze würde die EU wohl auch in diesem Fall eine Fristverlängerung gewähren. Unwahrscheinlich, aber nicht ganz auszuschließen ist auch, dass ein Premierminister Johnson doch noch ein zweites Referendum unterstützen könnte, falls ihm der aktuelle Deal und Neuwahlen gleichermaßen unattraktiv erscheinen.
Unter all diesen Optionen ist es derzeit am wahrscheinlichsten, dass es zwar weiterhin zu keiner endgültigen Einigung kommt, der drohende Brexit aber kurzfristig durch Neuwahlen und eine Fristverlängerung der EU abgewendet wird. Es scheint, als würde die Unendliche Geschichte Brexit auch im Oktober kein Ende nehmen.
Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung des englischsprachigen Artikels „Three scenarios for Brexit under Boris Johnson“, der auf ING THINK verfügbar ist.