Reality Check verpasst?

Chart of the Week

4 min Lesedauer 20.05.2020

Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Geldpolitik der Europäischen Zentralbank beleuchtet nicht nur unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Stellung europäischen Rechts – absoluter Vorrang vor nationalem Recht nach Luxemburger Lesart, nur bedingter Vorrang hingegen nach Meinung der Richter aus Karlsruhe. Ein Schlaglicht wirft das gesamte Verfahren auch auf die Vorstellungen von den Aufgaben einer Zentralbank, die in Deutschland noch immer etwas anders aufgefasst werden als mittlerweile fast überall sonst auf der Welt. Dass Notenbanken rund um den Globus neben rein währungspolitischen Zielen auch Konjunktur und Beschäftigung unterstützen, ist inzwischen nicht mehr ungewöhnlich. Vielerorts verlief diese Ausweitung der Rolle eher informell, auch wenn beispielsweise die US-amerikanische Fed ein solches „duales Mandat“ schon seit jeher explizit im Stammbuch zu stehen hat.

 

Die Europäische Zentralbank hingegen, ursprünglich geschaffen nach dem Vorbild der Bundesbank, um den Deutschen die Währungsunion schmackhaft zu machen, ist formell primär auf die Preisstabilität verpflichtet. Lediglich als sekundäre Zielstellung darf aus Frankfurt auch die allgemeine Wirtschaftspolitik unterstützt werden, sofern es dem Hauptmandat nicht zuwiderläuft. Diese Fixierung auf die Preisstabilität sollte im Vorfeld der Euro-Einführung die in Deutschland verbreitete Angst vor einer „Weichwährung“ lindern, die aufgrund vermeintlich verschwenderischer Politik mancher Länder unter hoher Inflation leiden würde. Die Währungshüter stellte man sich als Wachhunde vor, die mit drakonischen Zinserhöhungen reagieren würden, wenn sich aus Wahlgeschenken irgendwo in Europa Inflationsgefahren für den Euro ergeben sollten. Dass hingegen die EZB eines Tages verzweifelt würde versuchen müssen, Inflation zu erzeugen, um die Gefahr einer Deflationsspirale zu bannen, lag jenseits der Vorstellungskraft. Gerade der Rückblick auf die „guten alten Zeiten“ der Bundesbank war es wohl, der hierzulande eine Anpassung des öffentlichen Verständnisses von Aufgaben und Kompetenzen einer Zentralbank an neue Realitäten erschwerte.

Zustimmung zu verschiedenen Aussagen über die EZB-Geldpolitik

Quelle: ING International Survey

Da kann es nicht verwundern, dass Verbraucher in Deutschland vor allem die negativen Folgen der EZB-Geldpolitik sehen: Wie unser Chart der Woche zeigt, stimmen zwei Drittel der Teilnehmer einer repräsentativen ING-Umfrage von Ende 2019 der Aussage zu, dass die Niedrig- bzw. Negativzinspolitik der EZB die Sparer Geld koste. Dass sie andererseits aber auch hilft, Arbeitsplätze zu schützen und damit das Sparen überhaupt erst möglich zu machen, darauf kann sich weniger als ein Viertel der Befragten einigen – und das, obwohl die Vermögensbildung von Kleinsparern vor allem aus ihrem laufenden Arbeitseinkommen heraus erfolgt und nicht aus den Erträgen von schon bestehendem Vermögen. Insgesamt sind es etwa 18 Prozent aller Befragten, die beiden Aussagen zustimmen. Daraus ergibt sich, dass in beiden Richtungen die Zustimmung zu einer Aussage unter denjenigen, die auch der jeweils anderen Aussage zustimmen, höher ist als im Durchschnitt aller Befragten. Wer die positiven Aspekte sieht, sieht also mit höherer Wahrscheinlichkeit auch die negativen – und umgekehrt.

 

Ähnlich verhält es sich mit einem Aussagenpaar zur Selbst- bzw. Marktbestimmtheit der EZB-Entscheidungen. Während rund 40 Prozent der Auffassung beipflichten, dass sich in der Geldpolitik nur das Wirken von Marktkräften widerspiegelt, stimmen knapp 28 Prozent zu, dass die EZB ihre Entscheidungen unabhängig von Marktentwicklungen trifft. Auch hier sind es rund 18 Prozent, die beiden Aussagen zustimmen, und auch hier bedeutet das, dass die Zustimmung zu einer Aussage unter denjenigen, die auch der jeweils anderen Aussage zustimmen, höher ist als im Durchschnitt. Bei diesem Aussagenpaar mutet das allerdings etwas paradox an, da die beiden Aussagen einander ja direkt widersprechen.

 

Womöglich zeigt sich in diesen Ergebnissen aber auch einfach eine gewisse Unsicherheit, die manch einer auch den Richtern in Karlsruhe unterstellen würde; bei drei der vier Fragen wollte sich immerhin fast die Hälfte der Teilnehmer nicht festlegen. Eine öffentliche Diskussion über die Rolle einer Zentralbank in der ökonomischen Realität des 21. Jahrhunderts ist also nicht so verkehrt – sie muss nur nicht unbedingt vor Gericht geführt werden.

Autor: Sebastian Franke