Die wahrscheinlich flachste Kurve der Welt

Chart of the Week

4 min Lesedauer 05.03.2021

Die volkswirtschaftliche Theorie stützt sich häufig auf Modelle, die allgemeingültige wirtschaftliche Zusammenhänge verdeutlichen. Eines der prominentesten ist die Phillips-Kurve. Jahrzehntelang war sie ein wichtiges Modell für Notenbanken. In den letzten Jahren stellte sich aber immer häufiger die Frage: Müssen wir die Phillips-Kurve langsam beerdigen?

Die Phillips-Kurve beschreibt, vereinfacht gesagt, die negative Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation, ohne dabei eine Kausalbeziehung zwischen den beiden Größen herzustellen. Erste Erkenntnisse über diesen negativen Zusammenhang wurden bereits vor 95 Jahren vom US-amerikanischen Ökonom Fisher gewonnen, 1958 wurde der Zusammenhang graphisch durch den Namensgeber der Kurve, Phillips, dargestellt. Die Modifizierung der Kurve durch Samuelson und Solow folgte 1960. Der Theorie zufolge müsste man unter Vollbeschäftigung steigende Preise beobachten können, denn Arbeitnehmern sollte es leichter fallen, höhere Löhne zu verhandeln, wenn die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt moderat ist. Diese Lohnsteigerung würde dann zum einen darin resultieren, dass Unternehmen die Preise erhöhen, und zum anderen in gesteigerter Nachfrage der Arbeitnehmer. Aus dieser Lohn-Preis-Spirale ergibt sich der Anstieg der Inflation unter Vollbeschäftigung.

Soweit die Theorie. Denn während noch bis 2007 stärker steigende Preise bei geringerer Arbeitslosigkeit und moderatere Preisentwicklungen bei höheren Arbeitslosenquoten zu beobachten waren, war dieser Zusammenhang nach der Finanzkrise nicht mehr ersichtlich. Diese verlorene Korrelation zeigt unser Chart of the Week. Unabhängig davon, ob die Arbeitslosigkeit hoch war oder auf einem Rekordtief lag, waren in der Preissteigerung keine nennenswerten Unterschiede mehr zu erkennen. Die Phillips-Kurve ist stark abgeflacht und verläuft beinahe horizontal. Auch in den letzten 12 Monaten stieg die Arbeitslosigkeit durch die starke fiskalpolitische Unterstützung nur geringfügig an. Zuletzt stand sie bei sechs Prozent, was nach wie vor etwa 1,5 Prozentpunkte unterhalb des Durchschnitts der letzten 30 Jahre liegt. Der Theorie der Phillips-Kurve nach hätten also stärker steigende Preise beobachtbar sein müssen, tatsächlich war die Preissteigerung, gemessen an der Kerninflation, im letzten Jahr teilweise aber so gering wie zuletzt vor 10 Jahren. Während das Zusammenspiel von geringer Arbeitslosigkeit und geringer Preissteigerung der letzten 12 Monate durch die Corona-Krise und ergriffene staatliche Unterstützungsmaßnahmen bedingt eine Ausnahmesituation darstellt, wirft die Entwicklung der vorangegangenen Jahre dennoch die Frage auf: Müssen wir uns von dem modelltheoretischen Klassiker verabschieden?

Phillips-Kurve Deutschland

Der Chart zeigt die Phillips-Kurve für Deutschland.
Quelle: Refinitiv

Die Antwort ist nein – denn zumindest kurzfristig dürfte die Phillips-Kurve in diesem Jahr ein Comeback feiern.

Zentralbanker, die die Phillips-Kurve nach wie vor zur geldpolitischen Entscheidungsfindung heranziehen, dürften aber dennoch nicht aufatmen – denn die Rückkehr der Steigung wird ebenso wenig nachhaltig sein wie die Rückkehr der Inflation. Preissteigerungen stammen nicht von gestiegenen Löhnen, sondern von angebotsseitigen Preisschocks und einmaligen Faktoren. Zum Beispiel wird es nach Wiederöffnung Preisaufschläge in den am meisten von den Eindämmungsmaßnahmen betroffenen Bereichen geben. Im zweiten Halbjahr 2021 dürfte die Inflation hierzulande ihren Höhepunkt erreichen, denn dann wird die Umkehrung der Mehrwertsteuerreduzierung des letzten Jahres erst in den Daten sichtbar sein. Mit all diesen Faktoren ist es zwar durchaus möglich, dass Inflationsraten von bis zu 3 Prozent erreicht werden, allerdings ist das nicht die Art von Inflation, die seitens der EZB gewünscht ist. Dass die Phillips-Kurve zum ersten Mal seit Jahren wieder einen kurvenähnlichen Verlauf andeuten könnte, wird hier wenig Trost spenden.

Durch den Mangel an Lohnerhöhungen und den damit einhergehenden Kaufkraftverlust ist die Preissteigerung nämlich langfristig sogar eher deflationär als inflationär, weswegen die geldpolitische Sitzung des EZB-Rats in der kommenden Woche so manchen „German Dream“ von geldpolitischer Einengung platzen lassen dürfte. Für Anhänger der Modelltheorie könnte in diesem Jahr aber der Traum vom Aufleben der Phillips-Kurve wahr werden und die Rückkehr eines totgesagten Klassikers gefeiert werden. In der langen Frist bedarf es allerdings einer erneuten Modifizierung des Modells. Denn einigen strukturellen Veränderungen, wie der voranschreitenden Globalisierung und dem demographischen Wandel, wird die Phillips-Kurve aktuell nicht mehr gerecht.

Autor: Franziska Biehl