Bis zur Natürlichkeit – und wie weit ist das?

Chart of the Week

4 min Lesedauer 27.05.2022

Der Trend geht zur Natürlichkeit – an die Dos and Don’ts in der Schönheitsindustrie denken wir dabei allerdings nicht. Vielmehr an die EZB, die in den vergangenen Wochen häufiger den Trend hin zum natürlichen Zins erwähnte – doch wo liegt dieser Zins und sollte sich die Zentralbank bei der Zinssetzung tatsächlich an ihm orientieren?

Zum ersten Mal seit 11 Jahren unterzieht die EZB ihre geldpolitische Ausrichtung einem wahren Make-Over. Die Zeiten der ultralockeren Geldpolitik scheinen vorbei und die erste Zinserhöhung wird voraussichtlich im Juli erfolgen. Jedenfalls haben sich in den letzten Tagen und Wochen die Aussagen so ziemlich aller EZB-Ratsmitglieder überschlagen. Am Ende des dritten Quartals werden die Zinsen wohl auf 0 Prozent stehen. Es stellt sich dabei mittlerweile nicht mehr die Frage nach dem „ob“, sondern eher danach, ob die Normalisierung in einem oder in zwei Schritten erfolgen wird. Streitpotential gibt es offensichtlich noch bei der Frage, was danach passiert. Hier sind geldpolitische Tauben und Falken deutlich unterschiedlicher Meinung. Die Falken finden, dass die Zinsen in Richtung des neutralen, oder auch natürlichen, Zinses erhöht werden sollen, sollte sich die Inflation mittelfristig an das 2 Prozent-Ziel annähern.

Aber was genau ist dieser neutrale Zins? In der Theorie beschreibt dieser Zins das Zinsniveau, welches weder eine restriktive noch eine stimulierende Wirkung auf die Wirtschaft hat. Die Produktion ist ausgelastet und die Preise stabil. Für den natürlichen Zins gibt es verschiedene Treiber – die Geldpolitik ist einer davon, doch auch das Spar- und Investitionsverhalten der Bevölkerung spielen eine Rolle, ebenso wie der technologische Fortschritt oder die Demographie. Auf welchem Niveau dieser Zins liegt, lässt sich allerdings nicht genau beobachten und muss daher anhand von Modellen geschätzt werden. In den USA geht man davon aus, dass der natürliche Zins bei 2-3 Prozent liegt. Auch für die Eurozone gibt es Schätzungen zur Höhe des natürlichen Zinses. Die EZB selbst geht davon aus, dass der natürliche Zins zwischen 1 und 1,5 Prozent liegt. Dass diese Schätzungen allerdings schwierig sind und vor allem großen Schwankungen unterliegen können, zeigt unser Chart of the Week. 

Modellschätzung des natürlichen Zinses für die Eurozone

Der Chart zeigt die Modellschätzung des natürlichen Zinses für die Eurozone zu verschiedenen Zeitpunkten.
Quelle: New York Fed; Kathryn Holston, Thomas Laubach, und John C. Williams

Während die Schätzung im zweiten Quartal 2017 noch anzeigte, dass der natürliche Zins zwischen 2013 und 2016 im negativen Bereich lag, sah die Schätzung für denselben Zeitraum im zweiten Quartal 2020 anders aus. Den jüngsten Ergebnissen der Messung zufolge, aufgrund der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Unsicherheit wurde die Schätzung nicht weiter fortgeführt, lag der natürliche Zins niemals im negativen Bereich. Grund für die starke Schwankung dürften Datenrevisionen sein. Doch genau diese Messunsicherheit birgt Risiken, wenn die Zentralbank sich am modelltheoretischen Gleichgewichtszins orientiert. Wird der natürliche Zins überschätzt, sprich, liegt er in Wahrheit niedriger als die Schätzung es impliziert, könnte die EZB die Geldpolitik zu früh oder zu schnell einengen. Wird der natürliche Zins allerdings unterschätzt, würde länger als nötig an der lockeren Geldpolitik festgehalten werden, was zu einem Überhitzen der Konjunktur führen könnte.

Zudem geht aus den Modellen nicht deutlich hervor, ob der natürliche Zins sich auf den Leitzins der Zentralbanken oder den Kapitalmarktzins, beispielsweise gemessen an den Renditen für langfristige Staatsanleihen, bezieht. Folgt man der Definition des schwedischen Ökonomen Knut Wicksell, handelt es sich um den Darlehenszins. Und der Zins für Darlehen orientiert sich viel mehr an den langfristigen Kapitalmarktzinsen als am Leitzins der Zentralbanken. Geht man nun davon aus, dass der natürliche Zins tatsächlich eher die Kapitalmarkt- als die Leitzinsen beschreibt, wäre man sowohl in den USA als auch in der Eurozone schon recht nah dran an der Natürlichkeit. Die Rendite der deutschen 10-jährigen Staatsanleihe lag zuletzt bei rund 0,98 Prozent, die der US-amerikanischen bei 2,75 Prozent.

Geldpolitik ist ja nicht nur Wissenschaft, sondern auch Kunst. Den künftigen geldpolitischen Pfad zu stark an einem ökonometrischen Mysterium auszurichten, könnte daher schnell zur Folge haben, dass der Trend zur Natürlichkeit mehr als nur kleine Schönheitsfehler ans Licht bringt.

Noch mehr über den neutralen Zins gibt es in unserer aktuellen Folge „Carsten’s Corner“ zu hören.

Autor: Franziska Biehl