Löhne rauf – Kaufkraft runter
Chart of the Week
„Na, wenigstens etwas!“ So oder so ähnlich hat im Laufe des letzten Jahres wahrscheinlich der eine oder andere Arbeitnehmer beim Blick auf den Gehaltseingang auf dem Kontoauszug reagiert. Und tatsächlich konnten sich viele Deutsche 2022 über eine Gehaltserhöhung freuen. Im Durchschnitt stiegen die Löhne im Vergleich zum Jahr 2021 um 3,4 Prozent (laut vorläufigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes). Dieser nominelle Anstieg der Löhne entspricht der größten jährlichen Steigerung seit fast drei Jahrzehnten.
Also ein Grund zu feiern? Fast, wäre da nicht die Inflation, die der Partylaune einen Strich durch die Rechnung macht. Um durchschnittlich 7,9 Prozent lagen die Verbraucherpreise im Jahr 2022 über denen des Vorjahres und zehrten damit den Lohnzuwachs der Arbeitnehmer komplett auf. Das Stichwort lautet Reallohn, welcher den nominellen Lohnzuwachs ins Verhältnis zur Inflation setzt. Dass die Reallöhne im Jahr 2022 gesunken sind, ist angesichts dieser Zahlen wenig überraschend. Unter dem Strich mussten Arbeitnehmer einen Reallohnverlust von 4,1 Prozent hinnehmen. Die Arbeitnehmer haben damit zwar mehr Geld auf dem Konto (dank der nominellen Lohnsteigerungen), aufgrund der stärker gestiegenen Verbraucherpreise aber weniger Kaufkraft. Beim Blick in die Vergangenheit wird klar, warum in diesem Zusammenhang von einem historischen Tiefpunkt gesprochen wird.
Unser Chart der Woche zeigt die Veränderung der Reallöhne, der Nominallöhne und der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahreszeitraum in Prozent. Die Veränderung des Verbraucherpreisindex entspricht der Inflationsrate. Der Nominallohnindex bildet die durchschnittlichen Bruttomonatsverdienste ab. Der Reallohnindex kombiniert die beiden Kennzahlen und stellt die Entwicklung der nominalen Löhne der Inflation gegenüber.
Nominallöhne, Verbraucherpreise und Reallöhne in Deutschland seit 1992 (prozentuale Veränderung gegenüber dem Vorjahr)
Tatsächlich sind die Reallöhne auf Jahressicht nie stärker gesunken als im Jahr 2022. Im gesamten Betrachtungszeitraum von 30 Jahren lag der größte Reallohnverlust bisher bei 1,9 Prozent im Jahr 1997. Ein Reallohnverlust von 4,1 Prozent kann damit tatsächlich als ein Verlust von historischem Ausmaß bezeichnet werden.
Zwischen 1991 und 2022 sind zwar die Nominallöhne in Deutschland um zwei Drittel gewachsen – das Plus bei den Reallöhnen betrug aber lediglich rund 7 Prozent. Ursächlich dafür ist die Entwicklung der Verbraucherpreise, die im gleichen Zeitraum um fast 60 Prozent gestiegen sind. Insgesamt mussten Arbeitnehmer in mehr als der Hälfte der betrachteten Jahre Reallohnverluste bzw. -stagnation verbuchen. Der längste Zeitraum mit konsekutiven sinkenden oder stagnierenden Reallöhnen lag zwischen 2000 und 2007, als die Inflationsrate durchweg höher als die nominellen Lohnsteigerungen war. Auch die letzten drei Jahre waren von sinkenden Reallöhnen geprägt.
Umso mehr ist die jüngste Reallohnentwicklung daher Wasser auf die Mühlen der Gewerkschaften und Arbeitnehmer, die deutliche Lohnsteigerungen fordern. So wurden in den ersten Verhandlungsrunden verschiedener Gewerkschaften in diesem Jahr bereits Lohnerhöhungen zwischen 10 und 15 Prozent gefordert. Dass sich die Deutschen im Jahr 2023 über mehr Geld auf dem Konto freuen dürfen, gilt als ausgemacht. Zu einer Steigerung der Kaufkraft dürfte dieses Mehr allerdings nicht führen. Wir erwarten, dass die Gesamtinflation in diesem Jahr bei 5 bis 6 Prozent liegen wird und dass die Löhne in ähnlichem Umfang wachsen. Die Verluste der letzten Jahre wird das allerdings nicht ausgleichen.
Zu guter Letzt lohnt sich aus Reallohnsicht noch ein kurzer Blick nach Belgien, wo es nicht nur gute Schokolade oder Pommes frites gibt, sondern auch die sogenannte Lohnindexierung. Aufgrund dieser Kopplung des Lohns an die Inflation erhielten belgische Beschäftigte in Industrie, Handel, Dienstleistungen und Landwirtschaft ab Januar 2023 automatisch rund 11 Prozent mehr Lohn. Schon ein bisschen mehr als „Na, wenigstens etwas!“