Die Illusion der Unabhängigkeit

Chart of the Week

4 min Lesedauer 12.05.2023

Nach einem Zinsschritt in Höhe von 25 Basispunkten in der letzten Woche scheint die Fed das Ende ihres Zinserhöhungszyklus erreicht zu haben. Eine drohende Rezession in den USA macht sogar erste Zinssenkungen für dieses Jahr wahrscheinlich. In der Eurozone stellen eine zunehmend nachfragegetriebene Inflation sowie eine immer noch hartnäckige Kerninflation eine andere wirtschaftliche Ausgangslage dar. Im Gegensatz zur US-Notenbank erwarten wir deshalb, dass die EZB auf der Zinserhöhungsparty bleibt und die Zinsen mindestens noch einmal im Juni um 25 Basispunkte anhebt. Ist die EZB nun womöglich gezwungen früher als geplant eine Pause einzulegen, wenn ihr amerikanisches Pendant dies tut, oder agiert die EZB völlig unabhängig von den Entscheidungen auf der anderen Seite des Atlantiks, wie Präsidentin Lagarde es immer wieder betont?

Wir blicken in unserem Chart of the Week darauf, wie die Euro-Währungshüter in der Vergangenheit auf einen geldpolitischen Kurswechsel der Fed reagiert haben. Anhand des Verlaufs des Hauptrefinanzierungssatzes und der Federal Funds Rate seit Beginn der Währungsunion wird illustriert, in welchen Perioden und mit welcher Verzögerung die EZB auf Zinssenkungen der US-amerikanischen Notenbank in der Vergangenheit reagiert hat. Diese Betrachtung legt nahe, dass die Geldpolitik der EZB nicht völlig losgelöst von der geldpolitischen Ausrichtung der Fed ist.

Im Anschluss an das Platzen der Dotcom-Blase Anfang der 2000er änderte die Federal Reserve im Januar 2001 ihren geldpolitischen Kurs und vollzog bis Juni 2003 Zinssenkungen in Höhe von 550 Basispunkten. Insgesamt senkte die Fed den Leitzins so von 6,5 auf 1 Prozent. Die EZB begann vier Monate später ihre Geldpolitik zu lockern und lieferte bis Juni 2003 Zinsschritte mit einem Umfang von 275 Basispunkten, sodass sich der Hauptrefinanzierungssatz von 4,75 auf 2 Prozent reduzierte. Im Zuge der Subprime Krise, die sich dann zur globalen Finanzkrise entwickelte, begann die Fed im September 2007, bei einem Leitzins von 5,25 Prozent, mit Zinssenkungen, um die Wirtschaft zu stabilisieren, und senkte die Federal Funds Rate bis Dezember 2008 um 500 Basispunkte. Die Europäische Zentralbank begann allerdings erst 13 Monate später im Oktober 2008, der Leitzins 4,25 Prozent, einen geldpolitischen Kurswechsel vorzunehmen, als die Krise schon im vollen Gange war. Sie senkte die Zinsen bis Juni 2009 um 325 Basispunkte.

Vergleich des Hauptrefinanzierungssatzes (%) und der Federal Funds Rate (%) seit Beginn der europäischen Währungsunion

Der Chart zeigt die Verläufe des Hauptrefinanzierungssatzes und der Federal Funds Rate seit Beginn der europäischen Währungsunion.
Quelle: Refinitiv; ING

Unser Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die EZB unterschiedlich schnell auf Änderungen der Zinspolitik der US-Notenbank reagiert hat. Kurz zusammengefasst: wenn die Fed auf einen globalen Schock reagierte, folgte die EZB kurz danach. Reagierte die Fed eher auf einen nationalen Schock, folgte die EZB-Reaktion erst später. Genauso wie die europäische Konjunktur sich fast nie von der amerikanischen entkoppeln konnte, so hat in der Vergangenheit ein geldpolitischer Kurswechsel in den USA mit einer gewissen Verzögerung auch immer zu einer Kehrtwende in die gleiche Richtung in der europäischen Geldpolitik geführt. Die letzten Versuche des EZB-Entkoppelns sind noch in schmerzhafter Erinnerung: in den Jahren 2008 und 2011 hob die EZB die Leitzinsen trotz sinkender oder gleichbleibender Zinsen in den USA an. Nur, um kurz danach doch wieder umschwenken zu müssen.

Ein Grund für die zentrale Rolle der US-Notenbank für die Geldpolitik in Europa liegt in der konjunkturellen Vorreiterrolle der USA und der globalen Vernetzung der Volkswirtschaften. Bezogen auf Exporte stellten die Vereinigten Staaten beispielsweise den wichtigsten Handelspartner der Bundesrepublik im Jahre 2022 dar. Zudem spielen Wechselkurse eine zentrale Rolle in der Geldpolitik. Durch eine Auf- oder Abwertung der heimischen Währung verändert sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Unternehmen und somit auch die konjunkturellen Rahmenbedingungen. Außerdem führt eine Änderung in den Wechselkursen in der Regel zu einem veränderten Inflationsausblick: da sich importierte Güter bei einer Abwertung der heimischen Währung verteuern, steigt das inländische Preisniveau an und umgekehrt.

Festzuhalten bleibt, dass ein Ende der Zinserhöhungszyklen der großen Zentralbanken bevorsteht. Wenn wir recht behalten und die Fed aufgrund einer mittelschweren US-Rezession die Leitzinsen senken wird, dauert es wohl nicht lange, bevor auch die EZB die Kehrtwende einleitet. Natürlich bleibt die EZB unabhängig, aber entkoppeln von der Geldpolitik der Fed wird sie sich wohl nicht.

Autor: Daniel Rohde