Der Einkaufswagen bremst nur langsam

Chart of the Week

4 min Lesedauer 09.06.2023

Die Liste der außergewöhnlichen Feiertage scheint endlos zu sein - in den USA feierte man letzten Sonntag den nationalen Tag des Einkaufswagens (Shopping Cart Day). Und das sogar mit historischer Begründung. Denn am 4. Juni 1937 kam der erste Schubwagen zum Warentransport in einem US-amerikanischen Supermarkt zum Einsatz. Anlass genug, um nochmal genauer in den Einkaufswagen zu blicken.

Das Statistische Bundesamt vermeldete letzte Woche, dass die Preise im Mai zum ersten Mal in diesem Jahr im Vergleich zum Vormonat gesunken sind. Im Vergleich zum Vorjahr lag die deutsche Gesamtinflation im Mai bei 6,1 Prozent, nach 7,2 Prozent im April, und setzte somit ihren Abwärtstrend fort. Die jährliche Steigerung des harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), der die Inflationsrate unter den Eurozone-Staaten vergleichbar macht, lag im Jahresvergleich bei 6,3 Prozent, nachdem sie im Herbst letzten Jahres noch einen Höchststand von 11,6 Prozent erreicht hatte. Ein Blick unter die Oberfläche der Gesamtinflation zeigt, dass deren Rückgang nicht mehr ausschließlich auf Basiseffekte zurückzuführen ist, sondern tatsächlich auch auf sinkende Preise, weswegen allmählich von einem sich ausweitenden disinflationären Prozesses gesprochen werden kann. Ein detaillierter Blick in den Warenkorb zeigt allerdings, dass dieser Prozess noch nicht auf breite Teile der Wirtschaft bzw. des Produktangebots übergegriffen hat.

Unser Chart of the Week zeigt den Verlauf der jährlichen Änderungsrate des harmonisierten Verbraucherpreisindex für Deutschland, sowie der Kernrate des HVPI, die das Preiswachstum für Energie und Lebensmittel nicht berücksichtigt. Ergänzend illustriert der Chart den gewichteten Anteil der Güter im Warenkorb des HVPI, der eine monatliche Inflationsrate zwischen null und zwei Prozent bzw. ein negatives Preiswachstum aufweist.

Harmonisierter Verbraucherpreisindex (%YoY) und gewichteter Anteil (%) Güter im Warenkorb mit einer Inflationsrate kleiner zwei Prozent in Deutschland

Der Chart zeigt den Verlauf der jährlichen Änderungsrate des harmonisierten Verbraucherpreisindex für Deutschland, sowie der Kernrate des HVPI. Ergänzend illustriert der Chart den gewichteten Anteil der Güter im Warenkorb des HVPI, der eine monatliche Inflationsrate zwischen null und zwei Prozent bzw. ein negatives Preiswachstum aufweist.
Quelle: Eurostat, ING-Berechnungen

Während im Dezember 2020, in einer Phase mit negativen monatlichen Preiswachstum, gewichtet knapp 95 Prozent der Güter des Warenkorbs eine Inflationsrate von unter 2 Prozent verzeichneten, lag der Anteil im April 2023 bei nur rund 25 Prozent. Negative Preisentwicklungen wurden lediglich für den Betrieb von privaten Verkehrsmitteln und Telefon & Fax-Dienste verzeichnet. Zwischen 2015 und 2019 lag der gewichtete Anteil der Güter im Warenkorb, an dem die Inflation bestimmt wird, der Inflationsraten von unter 2 Prozent aufwies, bei durchschnittlich 70 Prozent. Negative jährliche Preisänderungen verzeichneten in diesem Zeitraum durchschnittlich rund 17 Prozent aller Güter. Hinweise darauf, dass der disinflationäre Prozess aktuell bereits weit vorangeschritten ist, bieten die Daten also nicht. Viel mehr dürften es, neben Basiseffekten im Bereich Energie- und Lebensmittelpreise, maximal Preisrückgänge in genau diesen Bereichen sein, die dem Rückgang der Gesamtinflation zugrunde liegen. Bis der nachlassende Preisdruck auch auf andere Produktgruppen überschwappt, dürfte es noch eine Weile dauern, weswegen davon auszugehen ist, dass insbesondere die Kerninflation noch länger hartnäckig hoch liegen wird.  Dafür sprechen auch die jüngsten Lohnabschlüsse und der immer noch ordentliche Preisdruck im Dienstleistungssektor.

Mit Blick auf die am kommenden Donnerstag anstehende EZB-Sitzung sollte im Frankfurter Ostend eines jedoch nicht vergessen werden: Zinserhöhungen bekämpfen nicht die hohe Inflation heute. Sie zeigen ihre Wirkung mit Zeitverzug und die ersten Effekte der mittlerweile 375 Basispunkte Leitzinsplus sehen wir bereits in sinkender Kreditnachfrage und schwächelnder Konjunktur. Die geldpolitischen Falken sind allerdings nach wie vor laut und deutlich zu hören und es scheint, als würde die EZB eher gewillt sein, zu lange an der Zinsschraube zu drehen, anstatt verfrüht damit aufzuhören. Sowohl kommende Woche als auch im Juli gehen wir daher davon aus, dass die EZB die Leitzinsen noch einmal um jeweils 25 Basispunkte erhöhen wird.

Ob die EZB besser daran getan hätte, die Auswirkungen der bisherigen Zinserhöhungen noch ein wenig länger, über den aktuellen „Tag des Einkaufswagens“ hinaus, zu beobachten und dem disinflationären Prozess Zeit zum Beschleunigen zu geben, wird sich erst mit der Zeit zeigen.

Autor: Daniel Rohde