Schulden und Schulden sind nicht dasselbe

Chart of the Week

4 min Lesedauer 30.06.2023

Auf der Homepage des Statistischen Bundesamts erschienen in den letzten Tagen zwei Meldungen, die auf den ersten Blick ganz ähnliche Sachverhalte zu behandeln schienen. „Öffentliche Schulden im 1. Quartal 2023 um 38,9 Milliarden Euro gestiegen“, hieß es da am 28. Juni. Nur einen Tag später konnte man lesen: „Überschuldete 2022: Schulden betragen im Durchschnitt das 26-fache des monatlichen Nettoeinkommens“. Nun ist zwar offensichtlich, dass es im einen Fall um die Schulden des Staates, im anderen um die von Privatleuten geht. Aber hängt das nicht trotzdem zusammen? Schließlich hört man immer wieder, dass auch der Staat sich nicht „überschulden“ und künftigen Generationen möglichst keine hohe Schuldenlast „aufbürden“ dürfe – denn die seien es schließlich, die dieses Geld irgendwann mal zurückzahlen müssten.

Und dass die vermeintliche Überschuldung nicht so weit weg ist, auf diesen Gedanken könnte man durchaus kommen: Mit 26 Nettomonatsgehältern stecken Menschen, die im letzten Jahr die Hilfe einer Schuldnerberatungsstelle in Deutschland in Anspruch genommen haben, durchschnittlich in den roten Zahlen. Würden sie also alle ihre verfügbaren Einkünfte weder für Miete noch für Lebensmittel, sondern ausschließlich für den Abtrag ihrer Schulden verwenden, würde das zwei Jahre und zwei Monate dauern.

Der Schuldenstand des öffentlichen Gesamthaushalts (Bund, Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände sowie Sozialversicherung einschließlich aller Extrahaushalte) betrug zum Ende des 1. Quartals dieses Jahres 2.406,6 Milliarden Euro – das sind rund 62 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Würde also jeder in Deutschland erwirtschaftete Euro ausschließlich zur Verringerung des öffentlichen Schuldenstands genutzt, läge dieser rechnerisch nach siebeneinhalb Monaten bei Null – das ist natürlich weniger als 26 Monate, aber nicht um Größenordnungen. Und misst man beispielsweise den Schuldenstand des Bundes nicht am BIP, sondern an der Größe eines jährlichen Bundeshaushalts, kommt man etwa auf den Faktor 3,5. Dreieinhalb Jahre würde die Rückzahlung bei ausschließlicher Verwendung sämtlicher Staatseinnahmen auf dem aktuellen Level also dauern. Unser Chart der Woche zeigt, wie sich die öffentlichen Schulden auf die verschiedenen Ebenen verteilen.

Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts (in Mrd. Euro, Stand 1. Quartal 2023)

Der Chart zeigt die Aufteilung der Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts auf Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherung.
Quelle: Statistisches Bundesamt

Der eigentliche Grund, weshalb Staats- und private Schulden zwei verschiedene Dinge sind, ist ein anderer: Staaten zahlen ihre Schulden normalerweise gar nicht zurück. Der Grund dafür liegt im sogenannten Fortführungsprinzip, das auch auf Unternehmen Anwendung findet: Während unser irdisches Dasein als Mensch zeitlich begrenzt ist und Banken bei der Kreditvergabe darauf achten, dass ein gewährter Kredit noch im Rahmen unserer voraussichtlichen Lebenserwartung zurückgezahlt ist, können Staaten theoretisch unbegrenzt alt werden.

Und so sind Gläubiger bereit, ihnen immer wieder neues Geld zu leihen, mit dem unter anderem bestehende Kredite bei Fälligkeit bedient werden. Bei vielen dieser Gläubiger handelt es sich außerdem um institutionelle Anleger wie Versicherungen und Pensionsfonds. Diese brauchen ihr Geld erst weit in der Zukunft und könnten überhaupt nichts mit den riesigen Bargeldbeständen anfangen, auf denen sie plötzlich säßen, wenn ein Staat tatsächlich einmal Schulden zurückgezahlt hätte, ohne gleichzeitig neue Kredite aufzunehmen.

Sind Schulden deshalb egal? Natürlich nicht. Je höher der Schuldenstand, desto höher auch der Betrag, der Jahr für Jahr an Zinsen aufgebracht werden muss und somit einen Teil der Handlungsfähigkeit des Staates bindet. Unter hohen Schuldenständen leidet außerdem die Kreditwürdigkeit – Anleger verlangen dann höhere Zinsen von einem Land, was das Problem weiter verschärft. Darüber, welcher Schuldenstand noch vertretbar oder schon zu hoch ist, kann man also trefflich streiten. Dass unsere Kinder und Enkel eines Tages von jetzt auf gleich Billionen von Euro aufbringen müssten, um unsere Schulden von heute zu tilgen, kann man aber getrost ins Reich der Mythen verweisen.

Autor: Sebastian Franke