Lieber haben als brauchen
Chart of the Week
Wer kennt es nicht? Auf Partys lieber zu viele Speisen und Getränke vorhalten, als den Gästen mitteilen zu müssen, dass sie bereits ausgegangen sind. Lieber den ein oder anderen Notgroschen mehr auf die Seite legen, als in finanziell herausfordernden Zeiten den Konsum einschränken zu müssen. Und auch Unternehmen leben aktuell nach dem Motto „lieber haben als brauchen“. Von Entlassungen wird Abstand genommen, um in wirtschaftlich besseren Zeiten nicht wieder die Last des Fachkräftemangels zu spüren. Bleibt der Arbeitsmarkt das resiliente Rückgrat der deutschen Wirtschaft?
Zwischen all den schlechten wirtschaftlichen Nachrichten über rekordhohe Inflation, negatives oder stagnierendes Wirtschaftswachstum oder eine immer weiter abnehmende Wettbewerbsfähigkeit, gibt es einen Lichtblick: den deutschen Arbeitsmarkt. Zwar zeigen sich auch hier bereits leichte Risse, von einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit ist allerdings nicht auszugehen. Im Juli lag die saisonbereinigte Arbeitslosenquote bei 5,6 Prozent. Im Juni hatte sie noch bei 5,7 Prozent gelegen. Die Gründe für die Resilienz des Arbeitsmarktes sind vielfältig. Während der Pandemie war es der erleichterte Zugang zur Kurzarbeit, der einen Großteil der Arbeitnehmer schützte. Andere, monetäre, fiskalpolitische Unterstützungsmaßnahmen kamen den Unternehmen direkt zugute, sodass diese nicht gezwungen waren, auf das herausfordernde Umfeld mit Entlassungen zu reagieren.
Mit der Wiedereröffnung der Wirtschaft und dem auf die Unternehmen einbrechenden Nachfrageschub, insbesondere im Dienstleistungssektor, kam eine neue Herausforderung auf viele Unternehmen zu: Fachkräftemangel. Zu Hochzeiten gaben 43 Prozent der Unternehmen in der Industrie und 49 Prozent der Dienstleistungsunternehmen an, dass ein Mangel an Fachkräften die Aktivität belaste. Kein Wunder also, dass das Gebot der aktuellen Stunde lautet: lieber haben als brauchen.
Arbeitsproduktivität & Wirtschaftswachstum (% im Vergleich zum Vorjahr)
Unser Chart of the Week zeigt, dass sich die Arbeitsproduktivität pro Arbeitnehmer seit dem dritten Quartal 2021 schlechter entwickelt als das Wirtschaftswachstum. Erklären lässt sich das durch das Phänomen des sogenannten „Labour Hoardings“ – dem Horten von Arbeitskräften. In solch einer Situation halten Unternehmen mehr Angestellte als sie benötigen würden, um die Nachfrage nach dem Gut oder der Dienstleistung zu bedienen. Angenommen, 10 Mitarbeiter produzierten vor einem Jahr 100 Einheiten eines Gutes und 150 Einheiten des Gutes heute, so wäre die Arbeitsproduktivität pro Arbeitnehmer gestiegen. Stagniert oder sinkt nun aber die Nachfrage und die Beschäftigung verändert sich nicht entsprechend, ist das Gegenteil der Fall und die Arbeitsproduktivität nimmt ab. Dieses Phänomen könnte dazu führen, dass Unternehmen höhere Preise für ihre Güter fordern, um für die gestiegenen Personalkosten bei zeitgleich geringerem Umsatz zu kompensieren. Tatsächlich ist bereits seit dem letzten Jahr zu beobachten, dass Unternehmen aufgrund höherer Profite, nicht Lohnkosten, höhere Preismargen erzielen.
Während hierbei von einer Profit-Preis-Spirale die Rede ist, gibt es unter der Oberfläche der resilienten Arbeitsmarktzahlen, deutliche Anzeichen dafür, dass die Sorge vor einer Lohn-Preis-Spirale hingegen nicht allzu groß sein sollte. Zwar hält sich der Arbeitsmarkt stabil und im Verhältnis zu den Vorpandemiejahren ist die Anzahl an offenen Stellen noch auf einem hohen Niveau, doch hat sich die angespannte Situation am Arbeitsmarkt schon etwas abgekühlt. Von Monat zu Monat sinkt die Anzahl vakanter Stellen und das Beschäftigungswachstum verlangsamt sich.
Die Beschäftigungserwartungen in der Industrie und im Dienstleistungssektor spiegeln ebenfalls ein Abkühlen des Arbeitsmarktes wider und unter Anbetracht der stagnierenden Wirtschaft ist es gut möglich, dass in Tarifverhandlungen vermehrt auf Arbeitsplatzsicherheit als auf starke Lohnerhöhungen gesetzt wird. Je stärker die Auswirkungen der bisherigen Zinserhöhungen der EZB in der Wirtschaft spürbar werden, desto kälter dürfte es auch am Arbeitsmarkt werden. „Lieber haben als brauchen“ sollte allerdings dabei helfen, eine Krise am Arbeitsmarkt zu verhindern.