Höhere Löhne allein machen immer noch nicht glücklich

Chart of the Week

4 min Lesedauer 01.09.2023

Im zweiten Quartal dieses Jahres stiegen die Löhne in Deutschland zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder stärker als die Inflation – wenn auch nur minimal. Der Blick unter die Oberfläche zeigt allerdings, dass es vor allem im Dienstleistungssektor starke Anstiege oberhalb der Inflation gab. Es scheint, als wären Lohnerhöhungen nach wie vor das bevorzugte Mittel im Kampf gegen den Fachkräftemangel.

Wie das Statistische Bundesamt in dieser Woche mitteilte, stiegen die Löhne im zweiten Quartal 2023 um 6,6 Prozent und damit so stark wie noch nie seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2008. Die Inflation lag im gleichen Zeitraum bei 6,5 Prozent, womit sich ein reales Lohnwachstum von 0,1 Prozent ergibt. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeutet das, dass die Lohnerhöhung zum ersten Mal seit zwei Jahren tatsächlich in höherer Kaufkraft resultiert. Jedenfalls für sich betrachtet, denn den starken Kaufkraftverlust, den die Verbraucher, insbesondere seit dem letzten Jahr, insgesamt erlitten haben, gleicht ein Reallohnwachstum von 0,1 Prozent keinesfalls aus.

Der Blick unter die Oberfläche der Lohnindizes zeigt zudem, dass sich nicht alle Beschäftigten über ein kleines reales Plus freuen dürfen – im herstellenden Gewerbe stiegen die Nominallöhne im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorjahr um 5,8 Prozent. Nach Abzug der Inflation im zweiten Quartal ergibt sich ein realer Lohnverlust von rund 0,7 Prozent. Anders sieht es im Dienstleistungsbereich aus – die Beschäftigten in diesem Wirtschaftsbereich durften sich im zweiten Quartal um im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 6,9 Prozent höhere Löhne freuen – nach Abzug der Inflation blieben davon 0,4 Prozent übrig. Diese Diskrepanz dürfte unter anderem auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass der Fachkräftemangel insbesondere im Dienstleistungssektor eine Belastung darstellt. Wir berichteten bereits im Jahr 2022 davon, dass Unternehmen insbesondere durch Lohnerhöhungen versuchen, dem selbigen zu begegnen.

Nominallohnentwicklung (%YoY) und Fachkräftemangel in ausgewählten Dienstleistungsbereichen

Der Chart zeigt die Nominallohnentwicklung (%YoY) und den Fachkräftemangel in ausgewählten Dienstleistungsbereichen
Quelle: Destatis; Europäische Kommission; ING Economic & Financial Analysis

Unser Chart of the Week zeigt, dass dies nach wie vor der Fall zu sein scheint. Zwischen der Nominallohnentwicklung im Vergleich zum Vorjahr und dem Anteil der Unternehmen, die angeben, dass ein Mangel an Arbeitskräften die Aktivität belastete, gab es im zweiten Quartal 2023 einen positiven Zusammenhang – je mehr Unternehmen angaben, dass der Fachkräftemangel eine Belastung darstelle, desto stärker stiegen in diesem Bereich die Löhne. So gaben beispielsweise rund 76 Prozent aller Unternehmen, die im Bereich Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften tätig waren, an, dass ein Mangel an Arbeitskräften die Aktivität belastete. Die Nominallöhne stiegen in diesem Bereich im zweiten Quartal um mehr als 10 Prozent. Bei den sonstigen freiberuflichen, technischen und wissenschaftlichen Aktivitäten beklagte knapp weniger als ein Fünftel der Unternehmen den Mangel an Fachkräften, die Nominallöhne stiegen im zweiten Quartal unterdurchschnittlich um 0,8 Prozent. Das starke Nominallohnwachstum in der Gastronomie von mehr als 13 Prozent dürfte zudem durch die Erhöhung des Mindestlohns sowie die Tatsache, dass es insbesondere in diesem Bereich starke Nachholeffekte nach der Lockerung der pandemiebedingten Lockdowns gegeben hatte, getrieben sein.

Nicht nur im Hinblick auf Arbeitsmarkt und Kaufkraftentwicklung sind die Daten zur Lohnentwicklung von Interesse: die Tatsache, dass die Löhne im Dienstleistungssektor zuletzt stärker gestiegen sind als im herstellenden Gewerbe, erklärt, warum auch mehr Dienstleister als Unternehmen in der Industrie angeben, dass sie mit weiteren Preisanstiegen in den vor uns liegenden Monaten rechnen – und warum die Inflation insbesondere im Dienstleistungssektor noch hoch liegt. Wir gehen allerdings davon aus, dass der Preisdruck auch in diesem Bereich abschwächen wird. Insbesondere nach dem Sommer dürften diverse Aufholeffekte vorüber sein, sodass auch der Lohndruck nachlassen wird.

Gute Nachrichten für die EZB, denn eine ausgewachsene Lohn-Preis-Spirale hat sie bisher nicht zu befürchten. Lohnerhöhungen allein werden allerdings nicht ausreichen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Dazu bedarf es zusätzlich noch des gesamten Pakets von Automatisierung, Fachkräftemigration und Umschulung.

Autor: Franziska Biehl