Produktivitätssteigerungen durch KI könnten geringer ausfallen als erwartet
Chart of the Week
Die Erwartungen an Künstliche Intelligenz sind hoch. So soll KI die Arbeitswelt revolutionieren, Prozesse erleichtern und zu massiven Produktivitätsgewinnen führen. Doch trotz des zunehmenden Einsatzes von KI und des generellen technologischen Fortschritts in den letzten Jahren ist das Produktivitätswachstum in vielen entwickelten Volkswirtschaften relativ langsam gewesen, während sich Arbeitslosenquoten auf historischen Tiefstständen befinden. Gibt es also gar keinen KI-Effekt?
Tatsächlich ist es derzeit einfach noch zu früh, um die Auswirkungen von KI in den Gesamtzahlen messen zu können. Denn technologische Innovationen, wie z.B. damals Elektrizität oder Computer, wirken erst verzögert auf die Produktivität. Früher oder später wird es einen Effekt geben – doch wie groß fällt er aus? Akademische Studien auf Unternehmensebene kommen im Allgemeinen zu dem Ergebnis, dass die Einführung von KI das jährliche Produktivitätswachstum innerhalb des Unternehmens um 2-3 Prozentpunkte erhöht. Auf Grundlage dieser Ergebnisse prognostizieren einige Studien, dass KI zu einem Anstieg der durchschnittlichen jährlichen Arbeitsproduktivitätswachstumsrate um 1,5 Prozentpunkte über einen Zeitraum von zehn Jahren nach Beginn des Produktivitätsbooms führen könnte. Dies käme einem extremen positiven Schock gleich. Denn in den letzten sieben Jahren betrug das reale Arbeitsproduktivitätswachstum in den USA und der EU durchschnittlich 0,9 %. Eine Steigerung um 1,5 Prozentpunkte würde daher einer Verdreifachung des Produktivitätswachstums entsprechen, wie unser Chart der Woche zeigt.
Durchschnittliches jährliches Wachstum der Arbeitsproduktivität
(Reales BIP pro Arbeitsstunde)
Wir sind weniger optimistisch und glauben, dass die Produktivitätsgewinne, die durch KI auf der Makroebene erzielt werden, zwar signifikant, aber geringer ausfallen werden:
- Ergebnisse von Studien, die auf Grundlage des KI-Einsatzes in ersten Vorreiter- oder Versuchs-Unternehmen erzielt wurden, auf die gesamte Wirtschaft zu verallgemeinern, kann Erwartungen an Produktivitätsgewinne nach oben verzerren.
- Ungünstigere Voraussetzungen (wie z.B. höhere Investitionen vor der Einführung von KI, Arbeitnehmer, die (um-)geschult werden müssen, weil sie weniger Vorkenntnisse haben, oder größere Schwierigkeiten bei der Erfassung der für die Schulung der KI erforderlichen Daten) bedeuten, dass die Produktivitätsgewinne durch KI in einigen Sektoren und Unternehmen wahrscheinlich viel geringer ausfallen werden. Zwar werden bestimmte Abteilungen in bestimmten Unternehmen von erheblichen Produktivitätssteigerungen profitieren, sobald KI auf breiter Basis eingesetzt wird, doch wird dies nicht für alle Abteilungen oder Unternehmen der Fall sein.
- Auch werden nicht alle Arbeitnehmer vom Einsatz von KI betroffen sein, wie unsere Studie über die Auswirkungen der KI auf den Arbeitsmarkt zeigt. Während in den USA und in der Eurozone etwa 60 % der Tätigkeiten von Beschäftigten von KI ergänzt oder ersetzt werden könnten, werden 40 % keinerlei Auswirkungen spüren.
- Die mit der immer intensiveren Nutzung dieser Technologie verbundenen Produktivitätsverluste sollten berücksichtigt werden. So dürften beispielsweise Cybersicherheitsrisiken, politische Störungen und Energieknappheit die Gesamtproduktivitätsgewinne begrenzen (die Internationale Energieagentur schätzt, dass der weltweite Strombedarf von Rechenzentren bis 2026 auf über 1.000 TWh ansteigen könnte - eine Verdoppelung des Niveaus von 2022 und ein Anstieg, der dem gesamten Strombedarf Deutschlands entspricht).
Wir schätzen daher, dass die Produktivitätsgewinne, die allein auf den Einsatz von KI zurückzuführen sind, letztlich zwar um 1 Prozentpunkt betragen könnten, was den Auswirkungen der Erfindung des Personal Computers und des Internets entspricht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Produktivitätswachstum tatsächlich um 1 Prozentpunkt steigen wird. In einer Zeit, in der die KI die Produktivitätssteigerung vorantreiben könnte, wirken andere Faktoren, wie die Alterung der Bevölkerung und die sinkenden Produktivitätsgewinne früherer Innovationen, in die entgegengesetzte Richtung und wirken belastend auf das Produktivitätswachstum. Heißt, dass wir beim Produktivitätswachstum insgesamt einen geringen positiven Trend sehen könnten, da das Produktivitätswachstum auf der einen Seite nicht so stark zurückgeht, wie wir es uns vor der Entwicklung der KI vorgestellt haben, auf der anderen Seite aber bei weitem nicht so stark wächst, wie einige erwarten. Alles in allem erwarten wir in den nächsten Jahren einen Anstieg des jährlichen Produktivitätswachstums, der sich jedoch in einer Größenordnung von 0,1 bis 0,5 Prozentpunkten bewegen wird. Die USA werden davon indes wahrscheinlich stärker profitieren als Europa, wodurch sich die Kluft bei der Arbeitsproduktivität zwischen beiden Seiten des Atlantiks weiter vergrößert.
Unsere ausführliche englischsprachige Studie zu Produktivitätsgewinnen durch KI gibt’s hier: AI productivity gains may be smaller than you’re expecting | articles | ING Think