Ein realer Schluck aus der Pulle

Chart of the Week

3 min Lesedauer 31.05.2024

Nach 4,5 Prozent im letzten Quartal 2023 sind die Löhne in der Eurozone im ersten Quartal 2024 sogar um 4,7 Prozent gestiegen, getrieben vor allem von einem Anstieg in Deutschland. Erwartet wurde ein leichter Rückgang. So erfreulich diese Entwicklung aus Arbeitnehmersicht ist, bereitet sie der Europäischen Zentralbank vermutlich doch etwas Kopfzerbrechen, denn Löhne gehen in die Produktionskosten ein und könnten so die Rückkehr der Inflation zum Zielwert von 2 Prozent erschweren. Die jüngsten Zahlen werden die EZB vermutlich nicht davon abhalten, die Zinsen auf der Ratssitzung in der kommenden Woche zum ersten Mal seit 2016 wieder zu senken – aber die Bauchschmerzen, mit denen so manches Ratsmitglied dieser Änderung zustimmt, dürften noch etwas stärker geworden sein. Unser Chart der Woche zeigt die Entwicklung der deutschen Nominallöhne seit 2015 und was die jeweilige Inflation davon als Reallöhne übrigließ.

Hier sind mehrere Entwicklungen abzulesen: Auch mit moderaten nominalen Lohnsteigerungen wurde bis 2020 stets ein positives Reallohnwachstum erzielt. Bis weit in die 2010er Jahre hinein lag die Inflationsrate nämlich meist deutlich unter dem damaligen Zielwert der Europäischen Zentralbank von „nahe bei, aber unter 2 Prozent“. Weil die Inflation nur einen vergleichsweise kleinen Teil der nominalen Zuwächse auffraß, blieben die Reallöhne nicht weit hinter den nominalen zurück. Mit einer Inflationsrate, die zum Ende des Jahrzehnts wieder häufiger an der 2-Prozent-Marke kratzte, liefen Nominal- und Reallöhne dann etwas stärker auseinander – das Reallohnwachstum blieb aber positiv.

Nominal- und Reallöhne in Deutschland seit 2015

Der Chart zeigt die quartalsweise Entwicklung von Nominal- und Reallöhnen in Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal seit 2015.
Quelle: Statistisches Bundesamt

Im Jahr 2020 zeigte sich dann sehr deutlich der Einkommensschock durch die Corona-Pandemie: Die Inflation ging in den Keller, in unserem Chart abzulesen an der minimalen Differenz zwischen beiden Linien – aber die Löhne taten es ihr gleich. Und als dann nach der Pandemie die Erholung einsetzte, dauerte es nicht lange, bis die Rekordinflation der letzten Jahre zuschlug und aus kräftigen nominalen Zuwächsen ebenso kräftige reale Einbußen machte.

Die Inflation hat inzwischen nachgelassen und bewegt sich wieder auf den mittlerweile symmetrischen Zielwert der EZB von 2 Prozent zu, die Linien unseres Charts nähern sich einander wieder an. Aufgrund von Fachkräftemangel und demographischer Entwicklung bleibt aber die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer stark, so dass die Nominallöhne weiterhin kräftig steigen – und mit nachlassender Inflation bleibt davon auch real einiges übrig. Der Reallohnzuwachs in Deutschland von 3,8 Prozent in den ersten drei Monaten des Jahres 2024 ist der höchste Quartalswert, soweit die Zeitreihe des Statistischen Bundesamts zurückreicht – das ist immerhin bis 2008.

Vielleicht steht ja für das Gesamtjahr 2024 bei der Reallohnentwicklung am Ende eine 2 vor dem Komma. Das war zuletzt 2015 der Fall. Auch damit wäre aber der Kaufkraftverlust durch Pandemieschock und Rekordinflation noch nicht wieder ausgeglichen: 2019 lagen die Reallöhne noch über 5 Prozent höher als 2023. Aus Arbeitnehmersicht gibt es also noch einiges aufzuholen – und die EZB wird die Lohnentwicklung in der größten Volkswirtschaft der Eurozone sicher weiterhin im Auge behalten.

 

Autor: Sebastian Franke