Das R-Wort geht wieder um

Chart of the Week

5 min Lesedauer 09.08.2024

Wachstumsängste sind an die globalen Kapitalmärkte zurückgekehrt. Einer der Haupttreiber: schwächer als erwartet ausgefallene Arbeitsmarktzahlen aus den USA und das daraus resultierende Alarmsignal, das für die US-Wirtschaft scharfgeschaltet wurde. Doch kann die Arbeitslosigkeit, ein Indikator nachlaufender Natur, momentan tatsächlich einen verlässlichen Frühindikator für Rezessionen darstellen? Und was sagt uns die Sahm-Regel für die Eurozone?

Raus aus dem Risiko und rein in die sicheren Häfen – so sah es in den vergangenen Tagen an den globalen Kapitalmärkten aus. Von den Mitte Juli erreichten Höchstständen hatte sich der US-amerikanische Aktienleitindex zu Beginn der Woche um 8,5 Prozent entfernt, das Pendant der Eurozone lag um 7,6 Prozent niedriger. Währenddessen stieg die Nachfrage nach Staatsanleihen auf beiden Seiten des großen Teichs, was zu höheren Preisen für die Papiere und demnach sinkenden Kapitalmarktzinsen führte. In den USA lagen die Zinsen für langfristige Staatsanleihen zeitweise auf dem niedrigsten Wert seit gut einem Jahr, in der Eurozone auf dem niedrigsten Niveau seit Januar dieses Jahres. Für die sturzflugartige Entwicklung am Aktienmarkt gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Enttäuschende Unternehmensgewinne vor allem bei Technologiewerten und ein erster Realitätscheck, dass nicht alles, wo KI draufsteht, auch sofort große Gewinne macht. Warren Buffet, der Aktien verkauft. Carry-trade-Positionen in Japan, die aufgelöst werden, weil der Leitzins sich um sage und schreibe 20 Basispunkte erhöht hat. Geopolitische Unsicherheit durch den erneuten Konflikt zwischen dem Iran und Israel und über allem die Sorge, die US-Wirtschaft würde von einer Klippe stürzen, anstatt eine weiche Landung zu fliegen. Ausgelöst wurden diese Wachstumsängste bereits, als die Frühindikatoren für Juli vor einigen Wochen ein Abkühlen der US-Wirtschaft andeuteten, durch am Freitag veröffentlichte Daten zur Veränderung der Beschäftigtenzahl und insbesondere dem unerwarteten Anstieg der Arbeitslosenquote in den USA wurden die Rezessionsängste aber noch massiv befeuert.

Doch warum eigentlich? Ja, erwartet wurde eine zum Vormonat Juni unveränderte Arbeitslosenquote von 4,1 Prozent. Mit einer Arbeitslosenquote von 4,3 Prozent lag die Arbeitslosigkeit in den USA im Juli zwar höher als erwartet, allerdings noch immer unterhalb des Durchschnitts der fünf Vorkrisenjahre 2015-2019. Die überraschend höher liegende Arbeitslosenquote hat allerdings ein Alarmsignal scharfgeschaltet, welches in der Vergangenheit verlässlich beginnende Rezessionen in den USA angezeigt hat – die sogenannte Sahm-Regel. Die ehemalige Fed-Ökonomin Claudia Sahm stellte fest, dass der gleitende Dreimonatsdurchschnitt der Arbeitslosenquote immer dann um mindestens 0,5 Prozentpunkte oberhalb des 12-Monats-Tiefs derselben Zeitreihe liegt, wenn sich die Wirtschaft in der Anfangsphase einer Rezession befindet. Für Juli stieg der Indikator von 0,43 im Juni auf 0,53 an – und ließ so die Rezessionsglocken klingeln.

Sahm-Regel-Indikator für die Eurozone

(in Prozentpunkten)

Der Chart zeigt den Sahm-Regel-Indikator für die Eurozone
Quelle: LSEG Datastream; CEPR; ING Economic & Financial Analysis

Auch in der Eurozone gab es zuletzt einen überraschenden Anstieg der Arbeitslosenquote – nämlich von 6,4 Prozent im Mai auf 6,5 Prozent im Juni. Unser Chart of the Week zeigt allerdings, dass deswegen laut Sahm-Regel noch keine Rezessionssorgen bestehen müssen. Er verdeutlicht außerdem die nachlaufende Natur des Arbeitsmarkts – in zwei von drei Fällen schlug die Sahm-Regel erst Alarm, als die Rezession in der Eurozone schon in vollem Gange war. Fraglich, ob man da von einem geeigneten Frühindikator sprechen kann. Zwar könnte es gut sein, dass der kritische Wert für die Eurozone nicht wie in den USA bei 0,5 Prozentpunkten liegt, sondern etwas niedriger, mit einem Sahm-Indikator von Null im Juni würde allerdings auch dann kein Rezessionssignal gesendet.

Fraglich ist außerdem, ob der Indikator in Zeiten von sich verändernden Arbeitsmarktdynamiken dieselben Rückschlüsse wie in der Vergangenheit zulässt. Während Fachkräftemangel und der demographische Wandel den Arbeitsmarkt zuletzt auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten stabilisiert haben, führte die Migration auf beiden Seiten des großen Teichs zu einem Anstieg der Erwerbsbevölkerung. Auch die Schöpferin und Namensgeberin der Sahm-Regel selbst wies am vergangenen Freitag darauf hin, dass die zugrundeliegende US-Konjunktur sich noch robust halte. Ihr Indikator könne diesmal tatsächlich falsch liegen.

Daran, dass die globalen Finanzmärkte sich auf eine schwächelnde Weltkonjunktur eingeschossen haben und in Reaktion die Zinssenkungserwartungen ordentlich anzogen, änderte das allerdings nichts. Was die Fed betrifft, stellen die Finanzmarktteilnehmer sich nicht mehr die Frage, ob im September der Leitzins gesenkt werden wird, sondern vielmehr, ob die Zinsspanne nach der Sitzung um 25 oder 50 Basispunkte niedriger liegen wird. In der Eurozone wird die zweite Zinssenkung im kommenden Monat nicht mehr als 50/50-Chance gesehen, sondern mit einer rund 85-prozentigen Wahrscheinlichkeit eingepreist. Wenn wir es wie die EZB halten und die Lage rein datentechnisch beurteilen, dann sehen wir zwar eine sich abkühlende US-Wirtschaft und eine nachlassende Erholung in der Eurozone, unser inneres Rezessionsbarometer schlägt dabei aber nicht aus. Die Sahm-Regel wäre nicht der erste, in der Vergangenheit sehr verlässliche, Rezessionsindikator, der zuletzt nicht allzu gut funktioniert hat. Denken wir nur mal an die Differenz zwischen lang- und kurzfristigen Kapitalmarktzinsen – der inversen Renditekurve nach zu urteilen müssten sowohl die USA als auch die Eurozone bereits seit gut zwei Jahren tief in der Rezession stecken.

Wir sagen nicht, dass es keinen Grund zur Vorsicht gibt – die Unsicherheit ist aus vielfältigen Gründen auf hohem Niveau, die wirtschaftlichen Aussichten haben sich zuletzt sicherlich nicht verbessert und auch am Arbeitsmarkt gibt es Anzeichen einer Abkühlung. Um die wirtschaftliche Lage vollumfänglich zu beurteilen, gibt es allerdings mehr als einzelne Indikatoren – und der Blick aufs große Ganze malt noch kein so düsteres Bild, wie die Sahm-Regel es impliziert.

Autor: Franziska Biehl