Spieglein, Spieglein an der Wand – was ist die wirtschaftliche Wahrheit in Euroland?
Chart of the Week
Mit den in der vergangenen Woche veröffentlichten Makrodaten aus Deutschland und der Eurozone verhielt es sich in etwa so wie mit einem verzauberten Prinzen. Auf den ersten Blick scheint es ziemlich deutlich, was man da vor sich hat. Allerdings kann der erste Blick durchaus täuschen und erst der Blick unter die Oberfläche gibt die Realität preis. Bloß werden auf den zweiten Blick nicht zwangsläufig alle Frösche zu Prinzen. Es soll auch vorkommen, dass ein Königskind plötzlich wieder klein und grün wird und quakt.
So ähnlich verhielt es sich jedenfalls mit den August-Einkaufsmanagerindizes (PMIs) für die Eurozone. Der Gesamtindex war im Vergleich zum Vormonat gestiegen und erreichte den höchsten Stand seit Mai. Getrieben war diese Verbesserung durch eine optimistischere Einschätzung für den Dienstleistungssektor, der wie ein Ritter in weißer Rüstung auf der Bildfläche erschien – doch genau hier fängt die Geschichte an, spannend zu werden. Denn dass die Lage im Dienstleistungssektor der Eurozone im August so viel positiver beurteilt wurde als in den Vormonaten, lag hauptsächlich an der positiveren Einschätzung für diesen Sektor in Frankreich – und das wiederum war hauptsächlich durch die Olympischen Spiele getrieben. Ein Einmaleffekt also, der die sich verlangsamende Erholung der Eurozone-Wirtschaft nur maskiert.
Doch es kommt noch dicker – denn gleich ein zweiter Aufschneider hat in der vergangenen Woche versucht durch sein imposantes Auftreten über eine unbequeme Wahrheit unter der Oberfläche hinwegzutäuschen. Die Rede ist vom sich verlangsamenden Lohnwachstum, welches den Währungshütern der Eurozone und deren Ziel, die Inflation zurück zum 2 Prozent-Ziel zu bringen, auf den ersten Blick absolut in die Karten gespielt hat. Nachdem die Tariflöhne in der Eurozone im ersten Quartal noch um nominal 4,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen waren, waren es im zweiten Quartal nur noch 3,6 Prozent. Das Lohnwachstum scheint sich also auf den ersten Blick zu verlangsamen.
Tariflohnentwicklung inklusive und exklusive Einmalzahlungen in Deutschland
(% im Vergleich zum Vorjahr)
So wie sich die Einkaufsmanagerindizes für die positive Überraschung auf den ersten Blick die günstigen Einmaleffekte aus Frankreich zunutze machen, ist das sich verlangsamende Lohnwachstum in der Eurozone allerdings hauptsächlich durch den Rückgang des Lohnwachstums in Deutschland von 6,2 Prozent im ersten Quartal auf 3,1 Prozent im zweiten Quartal getrieben.
Dieser Rückgang wiederum dürfte vor allem durch die langsam auslaufenden Basiseffekte aus der Inflationsausgleichsprämie bedingt sein. Seit Oktober 2022 und noch bis zum Ende dieses Jahres dürfen deutsche Arbeitgeber eine steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie von bis zu 3.000 Euro an ihre Angestellten auszahlen. Eine Untersuchung des ifo-Instituts ergab, dass bereits im Januar dieses Jahres knapp 70 Prozent der deutschen Unternehmen eine Inflationsausgleichsprämie an ihre Mitarbeiter ausgezahlt hatten.
Kein Wunder also, dass sich das Lohnwachstum inklusive Einmalzahlungen, wie die Inflationsausgleichsprämie eine darstellt, im Vorjahresvergleich deutlich abgeschwächt hat. Für die Inflationsentwicklung, bzw. den zugrundeliegenden Preisdruck, ist allerdings das Lohnwachstum exklusive dieser Einmalzahlungen von größerer Relevanz, da ein höheres Grundgehalt zu einem stetigen Anstieg der Arbeitskosten führt und die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Unternehmen diese höheren Arbeitskosten in Form von Preisaufschlägen an die Verbraucher weitergeben. Und an dieser Stelle wird der Prinz unserer Geschichte wieder zum Frosch. Denn die Löhne exklusive Einmalzahlungen sind im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorjahr nicht nur stärker gestiegen als noch im ersten Quartal, sondern so stark wie seit 1996 nicht mehr. Nachdem das Lohnwachstum in den ersten drei Monaten des Jahres bei 3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr lag, waren es im zweiten Quartal 4,2 Prozent. Wie unser Chart of the Week zeigt, hat sich das zugrundeliegende Lohnwachstum also tatsächlich eher beschleunigt.
Spieglein, Spieglein an der Wand, was ist denn nun die wirtschaftliche Wahrheit in Euroland? Tatsächlich spricht in der Eurozone, entgegen dem was die August-PMIs anmuten lassen, wenig für ein Anziehen der wirtschaftlichen Erholung. Die Unsicherheit ist hoch, die Konsumlaune hält sich in Grenzen, in der Industrie lässt die Trendwende auf sich warten und dass sich sowohl die US-amerikanische als auch die chinesische Wirtschaft abkühlt, verspricht für den Außenhandel nichts Gutes. Zeitgleich sprechen anhaltend hohe Lohnforderungen, besonders aus Deutschland, gegen eine rasche Verlangsamung des Lohnwachstums, und zusammen mit den, insbesondere im Dienstleistungssektor, noch hohen Verkaufspreiserwartungen könnte das bedeuten, dass die Inflation sich noch länger hartnäckig auf zu hohen Niveaus halten wird.
Die wirtschaftliche Wahrheit in der Eurozone sieht unter der Oberfläche also deutlich stärker nach Stagflation aus, als man auf den ersten Blick erahnen könnte. Das Bild ist zwar noch nicht scharf genug, um die EZB davon abzuhalten, in zwei Wochen die Zinsen ein weiteres Mal zu senken, doch die Entscheidung wird keine leichte sein. Dass die jüngsten Konjunkturdaten durch die Bank weg von Einmaleffekten verzerrt waren und in sich jeweils den geldpolitischen Tauben als auch den geldpolitischen Falken Argumente geliefert haben, verkompliziert die Situation lediglich.