Deindustrialisierung oder einfach mehr Qualität statt Quantität?
Chart of the Week
Nicht erst seit letzter Woche warnen Unternehmen in Deutschland vor einem zunehmenden Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Doch dass Volkswagen, Deutschlands größter Autobauer, größter industrieller Arbeitgeber und weltweite Nummer zwei hinter dem japanischen Autobauer Toyota, Werksschließungen und betriebsbedingte Kündigungen nicht mehr ausschließt, zeigt, wie tief die deutsche Industrie mittlerweile in einer Krise steckt. Spätestens seit dem Ausbruch der Corona-Krise und dem russischen Angriff auf die Ukraine funktioniert die deutsche Kombination aus Exportmodell und billiger Energie nicht mehr. Doch ein Abgesang auf den deutschen Industriestandort ist (noch) verfrüht. Denn gemessen an der Bruttowertschöpfung steht die Industrie besser da als in den Jahrzehnten davor. Wie passt das zusammen?
Die Bruttowertschöpfung misst, wie viel Wert ein Unternehmen, bzw. eine Volkswirtschaft, tatsächlich im Produktionsprozess geschaffen hat, indem die Kosten für benötigte Materialien und Dienstleistungen (Vorleistungen) abgezogen werden. Lag die Bruttowertschöpfung seit den 1990er Jahren kontinuierlich unter der Industrieproduktion, so hat sich der Trend in den letzten Jahren, vor allem aber nach der Corona-Pandemie deutlich umgekehrt, wie unser Chart der Woche zeigt. Während die Industrieproduktion rund 8 Prozent unter ihrem Vor-Corona-Niveau (Q4 2019) liegt, liegt die Bruttowertschöpfung mit 0,6 Prozent sogar leicht über ihrem Vorkrisenniveau. Heißt: die Unternehmen schaffen mehr Wert, obwohl sie weniger produzieren. Dies kann auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen sein: Eine Verlagerung von Quantität zu Qualität, bzw. Fokus auf hochwertige Produkte; die Verlagerung von Produktionsprozessen, die einen geringen Wertschöpfungsanteil haben, ins Ausland, während die höherwertigen Produktionsschritte hier verbleiben; Effizienzsteigerungen durch Prozessoptimierung, Innovation und Automatisierung; aber auch höhere Preise für Endprodukte aufgrund von steigenden Kosten.
Industrieproduktion und Bruttowertschöpfung in Deutschland seit 1991
(Index, Q1 2017=100)
Die höhere Bruttowertschöpfung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um den Standort Deutschland schon mal besser bestellt war. Deutschlands Schlüsselbranche steckt in der Krise, denn der Übergang zur Elektromobilität läuft nicht reibungslos, der Fokus auf höherwertige (und teurere) Elektroautos hat sich noch nicht bewährt. Gleichzeitig sind besonders energieintensive Industriezweige in Deutschland wie die Chemie- oder Metallbranche ebenfalls noch nicht zu ihrer früheren Produktivitätsstärke zurückgekehrt sind. Zwar zählt für die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts nicht die Produktion, sondern in der Tat die Wertschöpfung (plus Gütersteuern abzüglich Gütersubventionen). Angesichts der wirtschaftlichen, strukturellen und politischen Veränderungen und Herausforderungen könnte aber auch bald die Bruttowertschöpfung dem negativen Trend der Industrieproduktion folgen.