Der Arbeitsmarkt boomt am falschen Ende

Chart of the Week

5 min Lesedauer 06.12.2024

Eine der großen Sorgen für den wirtschaftlichen Ausblick im kommenden Jahr ist die Trendwende am Arbeitsmarkt. Dieser wirkt allerdings bereits jetzt nur aus der Ferne betrachtet wie das stabile Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass das Beschäftigungswachstum der vergangenen Jahre weder nachhaltiges Wirtschaftswachstum fördern noch die Produktivität steigern dürfte.  

Seit dem zweiten Quartal 2022 ist die deutsche Wirtschaft durchschnittlich in keinem einzigen Quartal gewachsen, und auch für die vor uns liegenden Quartale sind die Aussichten nicht besser. Im Gegenteil, eine Abwärtsrevision der Prognosen jagt aktuell die andere. Gegen jede Intuition hat sich der Arbeitsmarkt allerdings glücklicherweise noch nicht deutlich abgeschwächt. Tatsächlich ist die Zahl der Beschäftigten bis zum Sommer kontinuierlich angestiegen, bevor eine leichte Trendwende eingesetzt hat. Dem Okunschen Gesetz, einer Art Daumenregel, die eine negative Korrelation zwischen BIP-Wachstum und Arbeitslosigkeit darstellt, zufolge, hätte das Beschäftigungswachstum von rund 1,6 Prozent zwischen dem vierten Quartal 2019 und dem zweiten Quartal 2024 zu einem Wirtschaftswachstum von deutlich mehr als 2 Prozent führen müssen. Was Arthur Okun in den 1960ern allerdings nicht bedacht haben dürfte, ist, dass es durchaus einen Unterschied macht, auf welche Art sich das Beschäftigungsniveau verändert – und in welchen Bereichen.

Wie unser Chart of the Week zeigt, war ein echter Anstieg der Beschäftigung nur im öffentlichen Sektor zu beobachten. Im Vergleich zum „Vorkrisenquartal“, dem vierten Quartal 2019, war die Beschäftigung im öffentlichen Sektor zum Ende des dritten Quartals 2024 um rund 7,5 Prozent gewachsen. In der Privatwirtschaft ließ sich, nach einer ersten Erholung nach der Pandemie, vielmehr eine Stagnation beobachten und am Ende des dritten Quartals 2024 lag die Beschäftigung um 0,4 Prozent niedriger als noch im vierten Quartal 2019.

Beschäftigungsentwicklung pro Sektor

(Index; 4Q 2019 = 100)

Der Chart zeigt die Beschäftigungsentwicklung in verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren.
Quelle: Eurostat; ING-Berechnungen

In der Industrie haben die vergangenen Jahre nicht nur wachstumstechnisch, sondern auch am Arbeitsmarkt allerdings die deutlichsten Spuren hinterlassen. Auch fast fünf Jahre nach Ausbruch der Pandemie hat sich das Beschäftigungsniveau noch lange nicht wieder erholt und lag zum Ende des dritten Quartals dieses Jahres um 2 Prozent unterhalb des Vorpandemieniveaus.

Ein ähnliches Bild zeichnet der Blick auf die Bruttowertschöpfung in diesen Sektoren. Während diese im öffentlichen Sektor am Ende des dritten Quartals 2024 im Vergleich zum vierten Quartal 2019 um 9 Prozent höher lag, waren es in der Privatwirtschaft gerade einmal 0,2 Prozent. Das Okunsche Gesetz scheint also, zumindest beim Blick unter die Oberfläche, doch zu halten. Lediglich beim Blick auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung lässt sich der theoretische Zusammenhang nicht erkennen. Und zwar aus gutem Grund.

Mit dem deutlichen Anstieg der Beschäftigung in den vergangenen Jahren wurden zwar Arbeitsplätze in wichtigen Bereichen geschaffen, zum nachhaltigen Wirtschaftswachstum und zur Steigerung der Produktivität hat dieses Beschäftigungswachstum allerdings wenig beigetragen. Denn sowohl für Wirtschaftswachstum als auch für die Produktivität macht es einen Unterschied, ob die Beschäftigung in Teilzeit- oder in Vollzeitstellen gesteigert wird. Und tatsächlich war das deutsche Beschäftigungswachstum der vergangenen Jahre nicht nur vollständig durch das Beschäftigungswachstum im öffentlichen Sektor getrieben, sondern vor allem durch den Anstieg der in Teilzeit beschäftigten Personen in diesem Bereich. In der Privatwirtschaft hingegen konnte der Rückgang der Vollzeitbeschäftigung durch den Anstieg der Teilzeitbeschäftigung nicht ausgeglichen werden. Zum Gesamtanstieg der Teilzeitbeschäftigung trug der private Sektor dementsprechend lediglich rund 15 Prozent bei, während sich 85 Prozent des Teilzeitbooms durch den Anstieg der Teilzeitbeschäftigung im öffentlichen Sektor erklären lassen.

Das Beschäftigungswachstum der vergangenen fünf Jahre war also fast vollständig durch mehr Teilzeitarbeit im öffentlichen Sektor getrieben. Gleichzeitig hat das Lohnwachstum in diesem Bereich zum Gesamtwachstum der Bruttolöhne und -gehälter, welches im gleichen Zeitraum bei 12 Prozent lag, allerdings nur rund ein Viertel beigetragen. Ein Grund, weshalb der private Konsum sich in den vergangenen Quartalen nicht so stark entwickelt hat, wie das Beschäftigungsniveau auf den ersten Blick hätte vermuten lassen können.

Auch mit Blick auf die Zukunft dürfte die wirtschaftliche Schwäche im privaten Sektor bzw. das alleinige Erstarken des öffentlichen Sektors wenig zum nachhaltigen Wirtschaftswachstum Deutschlands beitragen. Während der private Sektor jedes Jahr Anlageinvestitionen in Höhe von etwa 18 Prozent des BIPs tätigt, liegt die Investitionsaktivität im öffentlichen Sektor bei nur 3 Prozent des BIPs. Doch wo es Stellenabbau statt Zukunftsumbau heißt, wird eher kein attraktives Umfeld zum Investieren geschaffen.

Den Schwachstellen der Gegenwart zu begegnen sowie die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, wird ohne Wachstum im privaten Sektor nicht möglich sein. Die Aussicht auf eine weitere Abschwächung des Arbeitsmarktes, insbesondere in der bereits gebeutelten Industrie, versprechen dementsprechend kaum Gutes für die wirtschaftlichen Aussichten im Jahr 2025.

Autor: Franziska Biehl