Noch 20.000-mal schlafen bis Geschlechtergleichheit

Chart of the Week

5 min Lesedauer 07.03.2025

Gute Neuigkeiten zum Equal Pay Day – die geschlechterspezifische Lohnlücke lag im Jahr 2024 so niedrig wie noch nie. Doch um einzuschätzen, wie weit fortgeschritten Geschlechtergleichheit wirklich ist, gibt es mehr als Unterschiede in der Bezahlung. Und so erfreulich die Nachrichten aus Wiesbaden auch sind – bis zur vollumfänglichen Geschlechtergleichheit dürfte es in Deutschland noch mehr als ein halbes Jahrhundert dauern.

Ab heute verdient frau zum ersten Mal in diesem Jahr Geld – also zumindest symbolisch betrachtet. Denn im Jahr 2023 lag der Gender Pay Gap, also die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Bruttostundenlohn von Männern und Frauen, in Deutschland bei 18 Prozent. Geht man nun davon aus, dass Frauen den gleichen Anteil des Folgejahres unentgeltlich arbeiten würden, um danach das gleiche Gehalt wie die Männer zu bekommen, würden sie ab heute Geld verdienen. 66 Tage nach Jahresbeginn. Im kommenden Jahr wird es nicht mehr ganz so lange dauern, bis der symbolische Tag der Entgeltgerechtigkeit erreicht ist. Nach 58 Tagen, und somit Ende Februar, wird die 16-prozentige Lohnlücke, die im Jahr 2024 noch vorherrschte, geschlossen sein. So früh wie noch nie. Der bereinigte Gender Pay Gap allerdings, der erklärende Faktoren wie den Beschäftigungsumfang oder die Tatsache, dass Frauen häufiger in weniger gut bezahlten Berufen und Branchen arbeiten als Männer, berücksichtigt, blieb unverändert zum Vorjahr bei 6 Prozent.

Allerdings ist Geschlechtergleichheit mehr als ausgewogene Bezahlung – auch wenn diese eine entscheidende Rolle spielt. Das World Economic Forum, eine Schweizer Stiftung, die unter anderem in jedem Jahr das gleichnamige Treffen in Davos ausrichtet, misst seit 2006 in jedem Jahr, wie weit die Geschlechtergleichheit in verschiedenen Volkswirtschaften fortgeschritten ist. Auf einer Skala, die von 0 bis 1 reicht, wobei 0 für vollständige Ungleichheit und 1 für vollständige Gleichheit steht, hat Deutschland im Jahr 2024 mit einem Score von 0,81 den siebten Platz unter den 146 untersuchten Volkswirtschaften erzielt. Außerdem wurden in den vergangenen 18 Jahren in der Geschlechtergleichheit in Deutschland durchaus Fortschritte erzielt – während zur vollständigen Gleichheit zuletzt 19 Prozentpunkte fehlten, waren es im Jahr 2006 noch 25 Prozentpunkte.

World Economic Forum „Global Gender Gap Index” Deutschland und geschätzte Dauer bis zur vollständigen Geschlechtergleichstellung

Der Chart zeigt den „Global Gender Gap Index” Deutschland des World Economic Forum und die geschätzte Dauer bis zur vollständigen Geschlechtergleichstellung
Quelle: LSEG Datastream; ING-Berechnungen

Unser Chart of the Week zeigt allerdings auch, dass es bis zur vollständigen Geschlechtergleichheit noch ein langer Weg ist. Würde sich der Global Gender Gap Index für Deutschland in den vor uns liegenden Jahren in jedem Jahr so entwickeln wie durchschnittlich zwischen 2006 und 2024, dann würde es noch rund 55 Jahre dauern, bis Deutschland von vollständiger Geschlechtergleichheit sprechen kann.

Ein Blick unter die Oberfläche des Index zeigt, in welchen Bereichen Deutschland bereits auf sehr gutem Weg zur Gleichstellung ist. So zum Beispiel beim Bildungsniveau, wo lediglich eine Lücke von einem Prozentpunkt besteht. Auch in puncto Gesundheit sieht es gut aus mit der Gleichstellung, hier ist die Lücke mit 97 Prozent so gut wie geschlossen. Es gibt es aber durchaus auch noch Bereiche, in denen mehr Mut zur Lücke besteht, als der Geschlechtergleichheit guttut.

Im Bereich politische Teilhabe zum Beispiel. Hier dürfte die 16-jährige Amtszeit Angela Merkels ein noch schlechteres Ergebnis als die in 2024 erzielten 61 Prozent verhindert haben. Zwar liegt Deutschland in der Unterkategorie „Jahre mit weiblichem/männlichem Staatsoberhaupt“ nur ziemlich genau auf halbem Weg zur Geschlechtergleichheit, sichert sich damit aber immerhin den 6. Platz im globalen Vergleich. Schlechter sieht es aus bei den von Frauen besetzten Sitzen im Parlament. Und mit Blick auf die Zukunft dürfte es hier statt einer Verbesserung zunächst eine Verschlechterung geben – von den Abgeordneten der 21. Wahlperiode, sprich, im neuen Bundestag, werden 204 Abgeordnete weiblich sein. Der Anteil von Frauen im Parlament fällt somit von 34,8 Prozent, die es anfangs im 20. Deutschen Bundestag waren, auf 32,4 Prozent.

Wie der Blick auf die nach wie vor bestehende Lohnungleichheit bereits nahelegt, gibt es auch im Bereich wirtschaftliche Teilhabe und Chancen noch einiges zu tun. Hier lag der Erfolg der Geschlechtergleichheit zuletzt insgesamt bei 68 Prozent. Unter den 146 betrachteten Volkswirtschaften landet Deutschland damit auf Platz 82. Und hat damit in der ökonomischen Gleichstellung in den vergangenen Jahren insgesamt eher Rück- als Fortschritte gemacht. 2018 erreichte Deutschland noch einen ökonomischen Gleichstellungswert von 73 Prozent. Dementsprechend hat sich auch der zeitliche Rahmen verlängert, der bis zum Erreichen vollständiger Gleichheit in diesem Bereich zu erwarten ist. Waren im Jahr 2018 noch mit rund 80 Jahren bis zur vollständigen Gleichheit im Bereich wirtschaftliche Teilhabe und Chancen zu rechnen, waren es 2024 mehr als 500 Jahre.

So erfreulich es also auch ist, dass der unbereinigte Gender Pay Gap zurückgegangen ist – bis zur Geschlechtergleichheit, insbesondere im wirtschaftlichen Sinne, ist es noch ein weiter Weg. Dabei dürfte die Erreichung der Gleichstellung nicht nur aus Gerechtigkeitspunkten, sondern auch ökonomisch von Vorteil sein. Verschiedene Studien zeigen, dass eine verbesserte Geschlechtergleichstellung Hand in Hand mit Anstiegen des BIP pro Kopf sowie der Schaffung von Arbeitsplätzen geht. Auch wenn Vorfreude bekanntlich die schönste Freude ist – mehr als 20.000-mal schlafen bis Gleichstellung ist also immer noch deutlich zu lang.

Autor: Franziska Biehl