2022 – das Jahr der Extreme
„Wer gut schlafen will, kauft Anleihen. Wer gut essen will, kauft Aktien.“ Dieses Bonmot des 1999 verstorbenen Altmeister der Börse, André Kostolany, erwies sich in diesem Jahr als wenig förderlich. Während mancher Anleihen-Besitzer mit Albträumen geplagt wurde, verdarben sich Dividendenjäger den Magen.
Nach 1931 und 1969 wird 2022 erst das dritte Jahr sein, in dem sowohl Aktien als auch Festverzinsliche Verluste abwarfen. Kaum jemand dürfte erwartet haben, dass die Jahrzehnte andauernd Anleihen-Hausse so unvermittelt enden würde. Der über 30 Jahre währende Trend sinkender Zinsen wurde im März markant durchbrochen. Auslöser waren die internationalen Notenbanken, die im Kampf gegen die sprunghaft gestiegene Inflation die Zinsen in einem ungeahnten Tempo erhöhten. Der Krieg in der Ukraine führte zu einer exorbitanten Verteuerung der Energiepreise, die ihrerseits die Teuerung in die Höhe trieben. In Deutschland etwa erreichte die Inflation im Oktober mit 10,4 Prozent auf dem höchsten Stand seit etwa 70 Jahren.
Selbst Gold wurde seinem Ruf als sicherer Hafen nicht gerecht
Die Folge waren zunehmende Rezessionsängste – und extreme Verwerfungen an den Finanzmärkten: Der Mix aus Inflation, Zinsanstiegen, geopolitischen Unsicherheiten und Konjunktursorgen hinterließ bei sämtlichen Anlageklassen tiefe Spuren. Auf eine V-förmige Erholung wie während der Coronakrise warteten die Anleger vergebens. Unter Druck gerieten vor allem die jahrelang besonders begehrten Hightech-Aktien: Höhere Zinsen bei der Berechnung des Firmenwerts führen dazu, dass die künftigen Gewinne aus heutiger Sicht weniger wert sind. Selbst Gold, das traditionell als Krisenmetall gilt, ist heute günstiger als zu Beginn dieses Jahres.
Trotz des widrigen Umfelds gelang der Porsche AG mit einem Emissionsvolumen von 9,4 Milliarden Euro der größte Börsengang seit dem Telekom-IPO vor rund 25 Jahren. Eine weitere gute Nachricht: Sparer bekommen nach langer Durststrecke wieder Zinsen, Tagesgeld- und Festgeldkonten werfen wieder etwas ab.
Ein Jahr großer Veränderungen und Umbrüche
Die Hoffnung der Anleger auf kleinere und bald endende Zinsschritte der Notenbanken führte im November zu einer markanten Erleichterungs-Rallye. Grund zu verhaltenem Optimismus machte kürzlich auch eine Analyse der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY. Danach haben die im Premium-Index Dax gelisteten Unternehmen das dritte Quartal auf Rekordniveau abgeschlossen.
Der operative Gewinn kletterte um 28 Prozent auf 44,7 Milliarden Euro und war so hoch wie nie zuvor in einem dritten Quartal. Die profitabelsten Firmen waren einmal mehr die Automobilkonzerne, deren Gewinn gegenüber dem Vorjahr um 58 Prozent auf gut 13 Milliarden Euro anstieg. EY zufolge könnte der Schwung des ersten Dreivierteljahres ausreichen, damit dieses Jahr unter dem Strich ein Rekordjahr wird.
Für Investoren dürfte der versöhnliche Jahresausklang allerdings nicht genügen, das langsam zu Ende gehende Jahr 2022 ohne Blessuren zu überstehen. Es wird als Jahr großer Veränderungen und Umbrüche in Erinnerung bleiben. Doch für den Vermögensaufbau ist ein langfristiger Anlagehorizont nötig – und der Ausblick dafür hat sich deutlich verbessert, die Bewertungen sind bereits deutlich gesunken.