Erbsenzählerei bringt gar nichts
Von Nathanael Häfner, veröffentlicht von ZEIT ONLINE
Niemand weiß so recht, wie Freundschaften enden. Klar, mal zieht wer weg, oder Kindheitsfreunde leben sich auseinander. Plötzlich den Schlussstrich ziehen fällt aber schwer. Im Film The Banshees of Inisherin will ein Musiker sich seinem letzten großen Werk widmen, das ihn überlebt. Damit das gelingt, beendet er von heute auf morgen eine Freundschaft.
Andere Bekanntschaften zerbrechen am Geld. Eine leiht sich ständig etwas, der andere bleibt als letzter am Tisch Café und soll vier Kaffees und drei Kuchenstücke bezahlen. Warum drücken sich Menschen in größeren Gruppen um ihren Anteil, wieso diskutieren Freunde ewig, ob Peter das Radler hatte oder Susanne die beiden Weizen?
"Die Entscheidungstheorie zeigt: Verluste wiegen schwerer als Gewinne. Daher sind Menschen oft sensibler dafür, zu viel zu bezahlen, als eventuell zu wenig beizutragen", sagt die Sozialpsychologin Janina Steinmetz. Sie forscht an der Bayes Business School in London dazu, wie Menschen konsumieren und sich verhalten.
Menschen fürchten also Verluste. Anders gesagt: Zahle ich zwei Limonaden zu viel, ärgere ich mich mehr darüber, als ich mich über zwei Gratisgetränke freue. Damit dieses Gefühl Freundschaften nicht belastet, lässt es sich vorher ausschließen. "Wer mit Freunden essen geht oder in den Urlaub fährt, sollte am besten vorher klären, welche Kosten die Gruppe wie teilt. Das vermeidet Konflikte von vorneherein, und der Kopf ist frei", sagt Steinmetz. Die erst Regel für weniger Geldstreit lautet also: Vorsicht ist besser als Nachsicht.
Was Freundinnen früher im Kopf ausrechneten oder auf Papier festhielten, nimmt ihnen heute die Maschine ab. Apps wie Splitwise oder Steven regeln, wer wem was zu zahlen hat. Dabei trägt jeder seine oder ihre Kosten ein, die App berechnet, wer wem wie viel Geld schuldet. Die Apps sind zunächst gratis, größere Gruppen oder mehr Features kosten oft extra. In Deutschland hilft dabei ein Kätzchen, genauer die Web-App Kittysplit. Der Begriff rührt vom englischen kitty, frei übersetzt Sammeltopf. Bisher ist Kittysplit nur im Browser verfügbar, momentan arbeiten die Entwickler an einer Handy-App.
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An der Pizza sind sie gescheitert
Zwei der Kittysplit-Gründer, Jonas Adler und Andreas Follmann, haben in Freiburg gemeinsam gewohnt. "Die Freundschaft hörte eher beim Essen auf, nicht beim Geld. Wir wollten unsere Pizza immer in exakt gleiche Teile schneiden und sind daran regelmäßig gescheitert", sagt Programmierer Jonas Adler.
Auch jetzt hat es sie wieder in eine gemeinsame Wohnung verschlagen, diesmal beruflich. Zusammen mit Freund und Mitgründer Luzian Wild arbeiten sie zu dritt im Dachgeschoss einer Kreuzberger Wohnung. In Pausen spielen sie Tischtennis oder sonnen sich auf dem Balkon, mit Blick auf den Berliner Viktoriapark.
Die drei haben für die Deutsche Post das Backend und die Berliner Philharmonie Apps programmiert, und nebenbei Kittysplit. 64.000 Leute nutzen die Web-App laut den Gründern monatlich, Nutzerinnen erstellten mehr als 16.000 geteilte Rechnungen im Monat. Der beste Tag: Neujahr. Irgendwer muss die Lichterketten und Wunderkerzen schließlich bezahlen.
Oft klären Nutzer bei Kittysplit für Junggesellenabschiede oder Fahrgemeinschaften die Finanzen. Für den ersten Kitty fuhren die Gründer gemeinsam Ski. "Wer uns kennenlernt, stellt fest, dass wir gar nicht so die Erbsenzähler sind. Wir würden jetzt nicht das Bier von vor drei Wochen vorhalten", sagt Gründer Jonas Adler. Vielmehr soll Kittysplit Missverständnisse vermeiden und Klarheit schaffen. "Kittysplit ging von Freunden aus einer WG hervor. Insofern teilt und leiht sich leichter Geld, wer sich kennt und vertraut", sagt Andreas Follmann.
Regiert Geld die Welt?
Zweitens gilt also: Apps beugen Streit womöglich vor, Vertrauen ersetzt sie aber nicht. Kritikerinnen können Splitting-Apps als Teil eines Solutionismus sehen. Der Begriff beschreibt gemäß dem Soziologen Oliver Nachtwey und dem Politikwissenschaftler Timo Seidl eine Heilslehre aus dem Silicon Valley, die für jedes zwischenmenschliche Problem eine technische Lösung bereithält.
Ökonomische Lage bestimmt über das Umfeld
Scheinbar harmlose Konflikte folgen oft aus der ökonomischen Lage. Geld bestimmt mit, wer unsere Eltern sind, auf welche Schule wir gehen, ob und wo wir in den Urlaub fahren. Schließlich studieren diejenigen wahrscheinlicher, deren Eltern bereits Akademiker waren. Sozialer Aufstieg gelingt in Deutschland deutlich seltener als in anderen OECD-Ländern. Die Hälfte aller Deutschen unter 34 Jahren besitzt weniger als 16.000 Euro.
Und laut einer jüngsten Studie schwedischer und schweizerischer Forscher könnte Geld mitentscheiden, wie viele Freundinnen und Freunde wir haben. Fast 5.000 schwedische Jugendliche sind Teil der Studie, die ärmsten 20 Prozent von ihnen haben weniger Freunde. Auch weil sie sich weniger Markenkleidung oder teure Hobbys leisten können, vermuten die Studienautorinnen.
"Auch wenn wir es nicht wollen, bestimmt die ökonomische Lage häufig, wer unsere Freunde sind, da wir viele Freunde etwa aus dem Studium oder dem Job kennen", sagt Sozialpsychologin Janina Steinmetz. Frei nach dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu: Je höher das eigene kulturelle und ökonomische Kapital, umso wahrscheinlicher umgeben wir uns mit Gleichgestellten. Und könnten dabei andere übersehen.
Auch im selben Freundeskreis besitzt die eine mehr und der andere weniger Geld. Wer gerade knapp bei Kasse ist oder für wen der Wochenendtrip eigentlich zu teuer ist, verschweigt das eher. Schließlich ist das Thema mit Scham behaftet. Wer auskömmlich lebt, befasst sich oft nicht mit Armut. Und das, obwohl sie eigentlich bewusst ist. Oder wie der deutsche Soziologe Ulrich Beck sagte: "Die Zahlen sind da. Aber man weiß nicht, wo die Menschen sind."
Das wirkt sich auch auf die Kinder aus: "Bei Kindergeburtstagen sollten Eltern den kleinsten gemeinsamen Nenner finden. Wer in den teuren Freizeitpark geht, schließt manche Kinder aus", sagt Sozialpsychologin Steinmetz. Wer also als dritte Regel niemanden unbewusst ausschließen will, sollte sich vergegenwärtigen, ob das Gegenüber offen über Geld sprechen kann und will.
Auch zu viele oder teure Geschenke können Freundschaften belasten. Wer zu viel verschenkt, lässt die andere in seiner Schuld stehen. Umgekehrt hat derjenige ein schlechtes Gewissen, der halbwegs ansehnliche Socken verschenkt, aber eine teure Uhr bekommt. "Geben heißt Überlegenheit beweisen, zeigen, dass man mehr ist und höher steht", heißt es beim Anthropologen Marcel Mauss.
Sozialpsychologin Janina Steinmetz kennt das Problem. Sie rät dazu, sich die Geschenke im Zweifel zu sparen. Sie machten keine Beziehung aus. "Stattdessen lässt sich sagen: Komm, wir gehen bald mal wandern oder machen eine Fahrradtour", sagt Steinmetz. Schließlich sei eine Freundschaft kein Warenaustausch.
Charakterloses Geld
Wer sich schätzt, schenkt einander Wertschätzung, Zeit oder Kraft. "Wichtig für soziale Beziehungen ist Reziprozität. Freunde sollten sich gegenseitig Gutes tun, das sich nicht nur auf Geld beschränkt", sagt Sozialpsychologin Steinmetz. Mal einen Kaffee kochen, einen Kuchen backen, etwas Gemaltes oder Gestricktes verschenken, eine Wanderung planen oder schlicht zuhören.
Die vierte Regel für weniger Geldstreit: Alles andere sollte eigentlich wichtiger sein. Mehr Gelassenheit also. Dazu rät auch Kittysplit-Gründer Jonas Adler: "Auch mit Rechner oder Split-App können Freunde fünfe mal gerade sein lassen." Es gehe eher darum, dass die Kosten ungefähr gleich verteilt seien, und nicht um die exakte Nachkommastelle.
Ansonsten könnte die Beziehung funktional ausfallen. Davor warnte der Soziologe Georg Simmel schon 1900 in seiner Philosophie des Geldes. Für Simmel ist Geld absolut, es bestimmt über Gesellschaften und auch darüber, wie sich Freunde zueinander verhalten. "Das Geld hat jene sehr positive Eigenschaft, die man mit dem negativen Begriff der Charakterlosigkeit bezeichnet", schreibt Simmel.
Das Problem laut Simmel: Wir entfremden uns mit Geld, weil es zum Maßstab wird, wie wir andere bewerten und uns mit ihnen austauschen. Soziale Normen, Werte oder Gefühle würden unwichtig, weil Geld "objektives Lebensmittel" darstelle. Schließlich habe sich Geld vom Mittel zum Zweck gewandelt.
Früher wollten Menschen satt sein oder ins Jenseits gelangen, heute streben sie immer mehr Reichtum an. Wer das als den höchsten Zweck begreift, könnte sich mit anderen befreunden, um ihren ökonomischen Status auszunutzen oder Karriere zu machen. Freundschaft verkommt dann zum reinen Mittel. In dem Fall könnte es leichter fallen, sie zu beenden.
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