Wo das alte Geld seit hundert Jahren wohnt

Von Marilena Piesker, veröffentlicht von ZEIT ONLINE

ZEIT ONLINE 7 min Lesedauer 07.08.2024
© Pia Publies

Im Schnitt ist jede und jeder der knapp 27.000 Einwohnerinnen und Einwohner von Neckarsulm Millionär. In der kleinen Stadt in Baden-Württemberg konzentriert sich nach Daten aus der Reichenliste des Manager Magazin ein Vermögen in Höhe von 29 Milliarden. Aber wie das mit Durchschnitten so ist, bilden sie die Realität eben doch nicht exakt ab. Das Vermögen in Neckarsulm ist nämlich nicht gleich verteilt, sondern liegt vor allem auf den Konten der Familie von Lidl-Gründer Dieter Schwarz. 

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Diese deutschen Städte sind besonders reich

Die Verteilung der heute größten Vermögen von Familien und Unternehmen können Sie der interaktiven Grafik von ZEIT ONLINE entnehmen. 

Ähnlich geht es anderen deutschen Kleinstädten, wie eine Auswertung der Forscherinnen Emma Ischinsky und Daria Tisch vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung zeigt. Im hessischen Melsungen etwa liegt Vermögen von mehr als sieben Milliarden Euro. In der bayrischen Kleinstadt Rottendorf, mit kaum mehr als 5.000 Einwohnern, liegen immerhin 2,3 Milliarden und in Herzogenaurach ganze 14 Milliarden Euro. Die höchsten Vermögen konzentrieren sich im Rheinland und im Süden, in Ostdeutschland gibt es hingegen kaum welches.

Wie kam es dorthin? Diese Frage haben sich auch die Ökonominnen Ischinsky und Tisch gestellt. Eine Antwort: Hier wohnt altes Geld. Und das teils schon seit hundert Jahren. Denn hohe Vermögen liegen vor allem an Orten, an denen sich die Familien erfolgreicher Familienunternehmen seit Generationen ansiedeln. Zum Beispiel Familie Bosch, die ihren Familien- und Firmensitz in Gerlingen bei Stuttgart hat. Oder Familie Oetker in Bielefeld.    

Bleiben 82 deutsche Familien für immer vermögend?

Die beiden Familien zählen nicht nur heute zu den reichsten Deutschen. Ihre Vorfahren waren auch schon 1913, also vor mehr als hundert Jahren, sehr vermögend. Dazu verglichen die Forscherinnen die heutige Reichenliste mit einer damals aus dem preußischen Innenministerium geleakten ähnlichen Zusammenstellung. Demnach verblieben viele große Vermögen über hundert Jahre innerhalb weniger Familien. Es sind nämlich nicht nur die Familien Bosch oder Oetker, die ihr Vermögen über eine derart lange Zeit erhalten und sogar ausbauen konnten. Acht Prozent oder insgesamt 82 von den 1.001 topvermögendsten Familien waren schon 1913 unter den reichsten Menschen in Deutschland, wie Ischinsky und Tisch zeigen. Betrachtet man nur die 500 wohlhabendsten Familien, waren zehn Prozent von ihnen schon vor hundert Jahren höchst vermögend.   

So reich sind diese Familien seit Jahrhunderten

Das Vermögen von deutschen Familien heute und früher können Sie der Grafik von ZEIT ONLINE entnehmen. 

Das Forscherinnenduo selbst zieht aus diesen Ergebnissen drastische Schlüsse: "Wenn über einen so langen Zeitraum die gleichen Menschen reich geblieben sind, wurden die Konsequenzen der deutschen Vermögensungleichheit bislang unterschätzt", sagt Tisch. Ihre Annahme: Gäbe es in Deutschland volle soziale Mobilität, hätten alle Menschen die gleichen Chancen, irgendwann einmal reich zu werden. Selbst diejenigen, die es schaffen, aus eigener Kraft reich zu werden, bleiben hinter den alten Vermögenden zurück. "Die alteingesessenen Vermögen rangieren in der Vermögensliste immer noch weiter oben als die neueren", sagt Tisch. 

Dabei klingen acht oder zehn Prozent der Vermögendsten, die auch 1913 schon sehr reich waren, erst mal wenig, findet Maximilian Stockhausen. Der Verteilungsexperte vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) glaubt, dass es beim Vermögen in Deutschland genügend soziale Mobilität gebe. Also eben doch genügend Chancen, dass jeder reich werden kann. Das IW konnte 2019 nachweisen, dass in Deutschland 73 Prozent aller Millionärinnen und Millionäre Selbstständige sind, und eben keine Erben. Stockhausen glaubt, dass "ausgerechnet die umstrittenen Erbschaften dafür sorgen, dass Deutschland im Gesamtbild gleicher wird". 

Es sei zwar tatsächlich so, dass vermögendere Haushalte öfter und mehr erben als ärmere. Aber es erben eben nicht nur Reiche, sondern auch die Mittelschicht oder ärmere Familien. Und für eine Abnahme der gesamten Ungleichheit zählt eben nicht die absolute Höhe des Erbes, sondern sein relatives Gewicht zum vorhandenen Vermögen – und das fällt in ärmeren Haushalten meist höher aus als in reicheren. Also erhalten ärmere Haushalte durch eine Erbschaft einen erheblichen Vermögenssprung, der die Vermögen insgesamt aneinander angleiche, argumentiert Stockhausen. "Es ist durchaus möglich, dass eine höhere Erbschaftssteuer die Ungleichheit sogar kurzfristig fördern könnte."

Wie sich die Vermögenselite abschottet

Nun kann Ungleichheit zunehmen, weil die Armen immer ärmer werden. Aber auch, wenn die Reichen immer reicher werden. Und die alte deutsche Vermögenselite hat nach Angaben der Forscherinnen Tisch und Ischinsky heute fast 563 Milliarden Euro angehäuft. Und das, obwohl die vergangenen hundert Jahre in Deutschland nicht gerade zu den einfachsten zählten, um Vermögen zu sichern, geschweige denn auszubauen. Immerhin gab es zwei Weltkriege, mehrere Währungsreformen, Vermögenssteuern und den Lastenausgleich nach dem Zweiten Weltkrieg, bei dem fast drei Millionen Deutsche die Hälfte ihres Vermögens abtreten mussten. Und doch zählen die deutschen Familienunternehmen zu den ältesten weltweit. Ihr Durchschnittsalter beträgt 101,8 Jahre, was vier bis fünf Generationen sind. Zum Vergleich: In den USA sind sie nur 74,5 Jahre alt. 

Wer heute reich ist, war es oft schon 1913

Die Verteilung der vermögendsten Unternehmen, die bereits 1913 zu den Reichen zählten, können Sie der interaktiven Grafik von ZEIT ONLINE entnehmen.

Ein Grund, warum die Inhaber deutscher Familienunternehmen über Generationen hinweg Vermögen aufbauen, liege im deutschen Steuerrecht, findet Julia Jirmann. "Indem die Vermögensteuer in Deutschland ausgesetzt wurde und die Erbschaftsteuer bei den größten Vermögen aufgrund von Ausnahmen kaum anfällt", sagt die Vertreterin des Netzwerk Steuergerechtigkeit. "Das Steuerrecht hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend zugunsten Hochvermögender entwickelt." Der Steuersatz auf Gewinne, die im Unternehmen oder in Holdinggesellschaften angespart werden, hat sich seit 1996 auf unter 30 Prozent fast halbiert.

Gleiches gilt für die Besteuerung von Erbschaften, also der Übertragung jenes Vermögens an weitere Generationen. Erstens erben Vermögende deutlich mehr als der Durchschnitt. Drei von vier deutschen Vermögenden ab 40 Jahren haben laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung geerbt oder eine Schenkung erhalten. In der Gesamtbevölkerung hat das in diesem Alter nur jede Dritte. Und dann fördert die Regierung besonders die Familienunternehmen, indem sie die Erbschaft dieser steuerlich begünstigt. Laut dem Netzwerk Steuergerechtigkeit wechseln jährlich Unternehmen im Wert von 36,6 Milliarden Euro gänzlich unversteuert den Eigentümer. 

Es hat aber nicht allein steuerpolitische Gründe, warum manche Familien einen festen Platz im Club der Superreichen haben. "Wir vermuten, dass es mitunter daran liegt, dass Vermögende vor allem unter sich heiraten", sagt Emma Ischinsky. Ein Teil der deutschen Superreichen sei sowohl innerhalb als auch zwischen den Generationen eng miteinander verbunden. So gebe es beispielsweise verwandtschaftliche Verbindungen zwischen Georg von Opel, Karl Friedrich von Hohenzollern, Karl-Theodor zu Guttenberg und Aby Rosen, der amerikanische, milliardenschwere Immobilieninvestor. "Solche Verwandtschaften zeigen, wie wichtig die Rolle der Familie für Vermögensaufbau immer noch ist", sagt Ischinsky, "und zugleich, wie stark die Vermögenselite sich abschottet." Es schaffe nämlich kaum eine hinein, die nicht schon von Geburt an zu diesen Kreisen gehöre.

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